Plädoyer für mehr Handlungsorientierung – Ergebnisse zur Bildungsgerechtigkeit in die Schulwirklichkeit tragen
Bildungstheorie und -praxis zusammen denken – dies versuchte die internationale Konferenz “Migration und Bildung: Theorie und Praxis interkultureller Lehrer_innenbildung und Schulentwicklung” vom 20. bis 22. Februar 2014 an der Universität Hildesheim, organisiert vom Zentrum für Bildungsintegration. Regina Schulz, Lehrerin in Schleswig-Holstein, sucht Antworten auf die Frage: Wie können Forschungsergebnisse zu migrationsbedingter Heterogenität konkret in der Praxis umgesetzt werden? Und sie schildert in Kommentaren ihre persönlichen Überlegungen zum Besprochenen.
Die ungleiche Teilhabe an Bildung ist vielfach belegt. Beim einführenden Panel “Benchmarks Interkultureller Schul- und Unterrichtsentwicklung” (Prof. Dr. Mechtild Gomolla, Prof. Dr. Sara Fürstenau und Prof. Dr. Ursula Neumann) dienten die Merkmale “sozialer Hintergrund” und “mit Migrationshintergrund” als Folie der Diskussionen über Bildungs(un)gerechtigkeit. Gründe für eine ungleiche Teilhabe an Bildung sind vor allem ein Mangel an individueller Förderung der Schüler_innen, fehlende diversitätsbewusste Professionalität von Lehrkräften und eurozentristische Fachinhalte, so die Bildungsforscherinnen.
Kommentar: Die Forschungsergebnisse sind wichtig. Sie befinden sich jedoch auf einer Metaebene; die konkrete Umsetzung für die schulische Praxis ist vage. Die Diskrepanz zwischen gefordertem Soll- und tatsächlichem Ist-Zustand an Schulen nehmen einige Bildungspraktiker_innen als Problem wahr. Sie stehen den Ergebnissen der Bildungsforschung skeptisch gegenüber: Die schulischen Rahmenbedingungen seien in der Forschung zu wenig berücksichtigt worden und die theoretischen Ergebnisse somit in der Praxis kaum umsetzbar.
Damit wichtige Forschungsergebnisse für Lehrende greifbar und im Unterricht umgesetzt werden können, müssen Kooperationsprojekte zwischen Schulen und Bildungsforschungsinstituten gefördert werden, wünschten sich auch die Bildungstheoretikerinnen des Panels. Es ist jedoch schwierig, kooperationsbereite Schulen zu finden, beteuerten sie. Es fehle unter anderem an der Bereitschaft einiger Kollegien, ihre Schule interkulturell zu öffnen. “Sollen wir jetzt etwa alle türkisch lernen?”, wurde Prof. Dr. Sara Fürstenau in einem Vorgespräch zu ihrem Forschungsprojekt “Mehrsprachigkeit als Handlungsfeld Interkultureller Schulentwicklung – MIKS” von einer Lehrkraft abgebügelt. Es scheint, als seien gemeinsame Projekte ausschließlich über das Engagement einzelner Lehrkräfte realisierbar.
Kommentar: Es fehlt an institutionalisierten Kooperationen und somit an Forschungsprojekten, deren Ergebnisse Lehrenden als best-practice-Beispiele für eine nachhaltige interkulturelle Entwicklung der eigenen Schule dienen können. Dieser Mangel hat zur Folge, dass Lehrende wichtige Forschungsergebnisse auf detaillierte Fallstudien oder einzelne Sachverhalte reduzieren.
Im Workshop “Praktische Beispiele Interkultureller Schulentwicklung” erläutert Regine Hartung ein best-practice-Beispiel für die Verbindung von individuellen Schulentwicklungsprozessen und Ergebnissen interkultureller Bildungsforschung. Die Beratungsstelle Interkulturelle Bildung des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg qualifiziert Lehrer_innen zu “Interkulturellen Koordinatoren“. Lehrende werden unterstützt, Vielfalt an der eigenen Schule zu managen und zu fördern. Konkret heißt das: Anti-Bias-Trainings, ein Fachtag zum Islam und zu Weiterbildungen bezüglich konstruktiver interkultureller Elternkooperationen, gleichzeitig zur Entwicklung eines Konzeptes zur interkulturellen Koordination der eigenen Schule. Im Austausch mit Kolleg_innen finden Lehrkräfte hier greifbare Lösungsansätze auf Fragen schulischer Realität: Welche Sprache sollte auf dem Schulhof gesprochen werden? Was bedeutet z.B. das Unterrichtsthema Nationalsozialismus für Igor, Meryam und Francesco? Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Eltern mit Migrationshintergrund und Schule optimiert werden?
Kommentar: Damit weitere gewinnbringende Kooperationen zwischen Bildungstheorie und -praxis etabliert werden können, brauchen wir mehr Bildungsforschung, die an die Rahmenbedingungen von Schulen angepasst ist. Wir brauchen Forschungsergebnisse, die nicht ausschließlich als Folie für Bewusstseinsschaffung, sondern darüber hinaus für Bildungspraktiker_innen anwendbar werden. Wir brauchen jedoch auch mehr Offenheit der Lehrkräfte gegenüber den Ergebnissen der Bildungsforschung. Lehrende dürfen empirische Daten nicht verklären und auf einzelne Sachverhalte reduzieren. Gegenseitige Skepsis muss abgebaut, stattdessen ein reflektierter transdisziplinärer Austausch aufgebaut werden. Dies braucht offene Verbündete auf allen Seiten und Ebenen.
Ich möchte Sie bitten, Links zu weiteren Exempeln für einen gelungenen Austausch von Bildungsforschung und -praxis in den Kommentaren zu hinterlassen, damit diese wichtigen best-practice-Beispiele weitergetragen werden.
Regina Schulz
Beispiele für Austausch, über die ich vor einigen Monaten bei Recherchen gestoßen bin:
1. “Professional School of Education” der HU Berlin als Bindeglied zwischen Forschung und Praxis, mit diversen Partnerschaften / Kooperationen (u.a. Partnerschulkolleg): http://www.hu-berlin.de/einrichtungen-organisation/wissenschaftliche-einrichtungen/zentralinstitute/pse/bereiche/partnerschulkolleg
2. Projekt MigraMentor (soll Schüler_innen mit Migrationshintergrund für Lehramtsstudium und Lehrer_innenberuf gewinnen; u.a. in Kooperation mit der HU Berlin): http://www.hu-berlin.de/schule/lehrer/angebote/migramentor/
Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass Uni-Forschende gerne Klassen und Schüler für die Datenerhebung nutzen, dann sieht man sie aber nicht wieder. Oder die Auswertung dauert so lange, dass man mit der Lerngruppe schon durch ist oder andere Schwerpunkte hat. Eine Kooperation habe ich noch nicht erlebt.
Ich wüsste auch gar nicht, wen man im Elfenbeinturm Universität ansprechen sollte. Ein Blick auf die Website der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Hamburg hilft nicht weiter.
Aber die andere Seite stimmt auch: Es gibt in der Lehrerschaft viel Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen, auch offene Abwehr. Scheinbar sind die institutionellen Zwänge zu eng, das Erfahrungswissen scheint den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu widersprechen.
Aber um so mehr wäre ein Austausch wünschenswert.