Sitzenbleiben galt lange Zeit als Allheilmittel und sinnvollste Sanktion im Kampf gegen schlechte Schulnoten und fehlende Lernmotivation. Dennoch muss sich die altbewährte Maßnahme seit kurzem verstärkter Kritik unterziehen. Heraufbeschworen wurde die neue Debatte von der rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen, die sich für eine schrittweise Abschaffung des Sitzenbleibens einsetzt.

 

“Schüler wollen sitzenbleiben” titelt der Tagesspiegel und bezieht sich dabei auf eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Philologenverbandes. Diese zeige, dass 85 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler und 73 Prozent der Gesamtbevölkerung am Sitzenbleiben festhielten. Die Befragten befürchteten im Falle einer Abschaffung sinkende Leistungsbereitschaft und steigende Durchfallquoten. Der Philologenverband warne, die Abschaffung des Sitzenbleibens belohne niedrige Lernmotivation. Vor Niedersachsen hätten bereits andere deutsche Bundesländer gehandelt und würden in einigen Klassenstufen bereits ganz auf die Ehrenrunde verzichten. Häufige Argumente seien dabei die von der OECD und Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern kritisierte Ineffizienz sowie die Kosten. Dennoch habe sich der Philologenverband bereits in der Vergangenheit für den Erhalt des Sitzenbleibens eingesetzt. Das Wiederholen verbessere gerade bei “Entwicklungsverzögerten” die Chance auf einen erfolgreichen Schulabschluss. Der Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann kritisiert an dieser Aussage, dass der Philologenverband vergesse, dass die nachweislichen Erfolge nur bei einer isolierten Betrachtung “Entwicklungsverzögerter” zuträfen, nicht allerdings bei der gesamten Gruppe aller Wiederholenden. Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes, bleibt laut Tagesspiegel dennoch kritisch gegenüber der Abschaffung des Sitzenbleibens. Es bleibe fraglich, ob individuelle Förderung das existierende System langfristig ersetzen könne. 

 

Auf die Seite der Sitzenbleib-Gegner und -Gegnerinnen stellt sich der MDR in seinem Beitrag “Schule ohne Sitzenbleiben – Vom Modellversuch zum Allgemeinrezept?”. Es habe sich vielfach gezeigt, dass die Lernmotivation nicht versetzter Schülerinnen und Schüler schnell wieder sinke und daher eine individuelle, auf diese Lernenden zugeschnittene Förderung deutlich sinnvoller sei. Die Meinungen von Eltern, Schülerinnen und Schülern sowie Bildungsschaffenden gehen in dem Beitrag hingegen auseinander. Während einige Schülerinnen und Schüler die Meinung vertreten, Sitzenbleiben sei eine Chance, empfinden andere das Wiederholungsjahr als Stigma und Auslöser von Ausgrenzung und Diskriminierung. Auch Eltern sprechen sich gegen das Sitzenbleiben und für eine individuelle Frühförderung schwächerer Schülerinnen und Schüler aus. Das Resümee der Autorin: Der Frust von Sitzenbleibenden behindere häufig deren positive Entwicklung und einen nachhaltigen Lernerfolg. Daher sei eine Entwicklung hin zu individuelleren Fördermaßnahmen notwenig. 

 

Die Gegenseite und somit die Sicht der Befürworterinnen und Befürworter des Sitzenbleibens illustriert der Spiegel und titelt “Pro Ehrenrunde: Schüler mögen Sitzenbleiben.” Auch er bezieht sich auf die Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Philologenverbandes. Überraschend ist ein hoher Anteil von 89 Prozent in der Altersgruppe zwischen 14 und 30 Jahren, der sich gegen die Abschaffung des Sitzenbleibens ausspricht, so das Medium. Die über 60-Jährigen urteilten hingegen etwas milder, hier seien es 71 Prozent, die sich für eine Erhaltung aussprachen. Selbst Anhänger der SPD sprächen sich entgegen der Parteiposition für eine Beibehaltung aus, nur 24 Prozent hielten den Verzicht auf das Sitzenbleiben für richtig. Gegnerinnen und Gegner der Ehrenrunde argumentierten hingegen mit rund einer Milliarde Euro Kosten pro Jahr, die von Sitzenbleibenden verursacht würden. Für den Vorsitzenden des Philologenverbandes, Meidinger, sind die Abschaffungspläne eine gezielte Sparmaßnahme der entsprechenden Bundesländer auf Kosten der Leistungsergebnisse bei Mittlerer Reife und Abitur. Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle von der CSU hält die Ideen zur Abschaffung für blanken Unsinn und bildungspolitischen und pädagogischen Populismus, der sich nicht an der Realität der Schülerinnen und Schüler orientiere. 

 

Schließlich hat die Südwest Presse für den Artikel “Sitzenbleiben abschaffen? Schulleiter geteilter Meinung” Bildungsschaffende aus dem schwäbischen Geislingen und dessen Umgebung befragt. Günther Effenberger, Schulleiter der Kaufmännischen Schule Geislingen, stellt darin klar, dass Schülerinnen und Schüler differenziert betrachtet werden müssten. So zeigten manche nur in einzelnen Fächern erhebliche Schwächen, während andere möglicherweise in einer anderen Schulart besser aufgehoben wären. Intensive Gespräche mit Eltern sowie Schülerinnen und Schülern seien daher unabdingbar. Auch für Rainer Hagmeyer von der Gottfried-von-Spitzenberg-Schule ist es nur sinnvoll, Schülerinnen und Schüler wiederholen zu lassen, die aufgrund von Krankheit oder anderen Gegebenheiten einen großen Lernrückstand angesammelt hätten. Für alle anderen sei Förderunterricht und individuelles Lernen wichtiger. Einen neuen Aspekt bringt Wolfgang Rapp vom Geislinger Helfenstein-Gymnasium ins Gespräch: Er spricht sich für eine Versetzung auf Probe für lernschwache Schülerinnen und Schüler aus, wie es sie bereits in einigen Schulen in Baden-Württemberg gebe. Betroffene Schülerinnen und Schüler könnten so im neuen Schuljahr vier Wochen lang Fehlendes nacharbeiten und bei bestandener Prüfung offiziell versetzt werden. Einen weiteren Aspekt ergänzt Heiner Sämann vom Geislinger Michelberg-Gymnasium. Trotz aller pädagogischen Maßnahmen sei der Lerngeist innerhalb der einzelnen Klassen ausschlaggebend für den schulischen Erfolg. Obwohl Schülerinnen und Schüler meist gewisse intellektuelle Fähigkeiten mitbrächten, hapere es oft am richtigen Arbeitsverhalten. In einem Aspekt scheinen sich alle Pädagogen und Pädagoginnen einig zu sein: Das momentane System ist nicht optimal. Daher gilt es laut Ottmar Dörrer von der Geislinger Tegelbergschule, Lerndefizite frühzeitig zu erkennen und Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern. 

 

Foto: flickr.com / Axel Schwenke / Erdfunkstelle Usingen 2005 / CC BY-SA 2.0