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“Behinderung wird gesellschaftlich gemacht”
Seit vier Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland rechtsgültig. Das Thema Inklusion – die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in allen Bereichen – wird seitdem in der Öffentlichkeit verstärkt diskutiert. werkstatt.bpb hat sich in zwei Beiträgen mit verschiedenen Aspekten von Inklusion beschäftigt. Was wurde bisher getan, um die Ziele der Konvention zu verwirklichen? Zudem sprach werkstatt.bpb mit der Soziologin Uta George über “Leichte Sprache”. Der zweite Teil stellt das Projekt “Wheelmap” vor und beschäftigt sich vor allem mit der Frage: Kann die Digitalisierung zu einer inklusiven Gesellschaft beitragen?
Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Umsetzung
Melissa wollte auf eine ganz normale Grundschule gehen. Als Gehörlose ist sie jedoch auf eine zusätzliche (Betreuungs-)Person angewiesen, einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin. Da weder die Schule noch eine andere staatliche Stelle die aufkommenden Kosten übernehmen wollte, zogen ihre Eltern schließlich vor Gericht und klagten. Und gewannen, fürs Erste. Denn seit 2009 ist es Melissas Recht, auf eine Regelschule gehen zu dürfen.
Ende des Jahres 2006 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die UN-Behindertenrechtskonvention. Noch einmal drei Jahre später trat diese Konvention auch in Deutschland in Kraft. Seitdem ist “Inklusion” geltendes Recht und kann vor Gericht erstritten werden. Das betrifft die Schul- und Ausbildung ebenso wie das Arbeitsleben und auch alltägliche Belange wie den Wohnort. Melissas Geschichte ist jedoch eine von vielen Beispielen, die verdeutlichen, dass es bis zur selbstverständlichen Inklusion aller Menschen noch ein weiter Weg ist.
Beate Rudolf, die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, bestätigt diesen für Deutschland geltenden Tatsachenbestand. Als werkstatt.bpb sie am Rande der Veranstaltung “Von der Euthanasie zur Inklusion” nach der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland fragt, zeigt sie sich realistisch: “Da stehen wir noch ganz am Anfang”. Die Finanzierung sei dabei im Kleinen wie im Großen einer der wichtigsten Streitpunkte. So bemängelt Beate Rudolf, dass der Aktionsplan der Bundesregierung und auch die Pläne auf Länderebene nur unzureichend seien. Die Bundesregierung mache keine klaren Angaben darüber, wie viel Geld sie für die Umsetzung bereitstellen wird. Auch bis wann die Ziele der Konvention in Deutschland umgesetzt werden sollen, sei bisher unklar. Dabei ist die inklusive Gesellschaft ein lohnendes Ziel für alle, meint die Direktorin des Instituts für Menschenrechte. Sie sagt: “Menschen mit Behinderungen haben Fähigkeiten, wie alle anderen Menschen, die sie in unsere Gesellschaft einbringen”. Doch bisher werde gerade das behinderten Menschen schwer gemacht.
Besonders beklagt Beate Rudolf das deutsche Schulsystem, das man “nicht anders als segregiert” nennen könne. Dabei sei es die Verpflichtung der UN-Behindertenrechtskonvention, dass Kinder wie Melissa gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung lernen können. Doch dafür wären bauliche Veränderungen an den Schulen notwendig, zudem müssten auch die Lehrenden gesondert qualifiziert werden. Geht es nach Rudolf, würde das Geld, das bisher in ein getrenntes Schulsystem fließt, in ein inklusives Schulsystem übergeleitet werden. Denn: “Vieles kann man nur erreichen, indem man umschichtet.” Diese Umschichtung sei langfristig auch kostengünstiger und zudem bedeute das inklusive Schulsystem eine gesellschaftlich Bereicherung, da ist sich Beate Rudolf sicher. Behinderung, sagt sie, und fasst damit noch einmal den Grundgedanken der Konvention zusammen, “wird gesellschaftlich gemacht”.
Die “Leichte Sprache”
Ein erster Schritt, diese “gesellschaftlich gemachte” Behinderung abzubauen, ist die sogenannte “Leichte Sprache”. Dieser Terminus bezeichnet eine Variante der deutschen Sprache, in der es keine langen Schachtelsätze, keine Anglizismen, keine Metaphern, keine Abkürzungen und keine Fremdwörter gibt. So kann unter anderem Menschen mit Lernschwierigkeiten das Verständnis von Texten und Audio-Beiträgen erleichtert werden. Es gibt bereits Wörterbücher in Leichter Sprache und Übersetzungsbüros, auch die UN-Behindertenrechtskonvention ist in Leichter Sprache vorhanden. Wie die Leichte Sprache in der historisch-politischen Bildung eingesetzt wird und warum sie gerade hier so wichtig ist, erklärt die Soziologin und freischaffende Bildungsreferentin, Uta George, im Audio-Interview (zu finden am Anfang dieses Artikels).
Barrierefreies Internet?
Parallele Angebote mit einer “leichten” Sprachvariante sind eine Möglichkeit, Barrieren abzubauen. Doch solche Barrieren schränken auch an anderen Stellen Zugänge und Teilhabe ein, an denen man sie nicht sofort vermuten würde. Der zweite Teil von “Access All Areas?” befasst sich mit der Barrierefreiheit des Internets und damit, wie die Digitalisierung zur Inklusion beitragen kann.
Das Audio-Interview führte Miriam Menzel.
Foto: Flickr.com / WELS.net / Wheelchair Access Sign / CC BY-NC 2.0
Danke für dein Hinweis auf die Materialien und das Interview!
Problematisch finde ich allerdings den von Frau Menzel gezogenen Vergleich zwischen “Menschen mit Lernschwierigkeiten” und “Menschen mit Migrationshintergrund”. Der Vergleich (in der Übertragung/Anwendung der gleichen Materialien) legt nahe, dass “Menschen mit Migrationshintergrund” “Lernschwierigkeiten” haben & unterstützt die Bildung von Vorurteilen / Stereotypen. Schade… Richtig und wichtig finde ich den Hinweis von Frau George, dass die Materialien von und für “Menschen mit Lernschwierigkeiten” sind bzw. freigegeben wurden & “Menschen mit Migrationshintergrund” bräuchten andere, auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Materialien!
Danke für diesen Kommentar! Der Vergleich erlaubt es der Interviewten noch einmal, eine Unterscheidung zwischen Materialien für Menschen mit Lernschwierigkeit und Materialien für Menschen mit Migrationsgeschichte zu ziehen, die ohne diese Frage evtl. nicht zur Sprache gekommen wäre. Trotzdem ist uns die Problematik des Vergleichs bewusst, weshalb wir die kritische Anmerkung gerne in unsere interne “Blattkritik” aufnehmen.