Ein ganzes Wochenende drehte sich auf dem OERcamp am vergangenen Wochenende in Bremen alles um Open Educational Resources (OER). Umsonst mit didaktischen Materialien aus dem Internet lehren oder lernen, diese weiterentwickeln und anderen zur Verfügung stellen, das Erschaffen einer offen zugänglichen Bildungskultur, das ist das Wesen der OER. werkstatt.bpb.de war vor Ort und berichtet über den Stand der derzeitigen Diskussion und neue Entdeckungen zum Thema.

 

Versucht man die Begrifflichkeit Open Educational Resources sinngemäß zu übersetzen, trifft es wohl die Umschreibung freie bzw. offene Lehr- und Lernmaterialien am besten. Mit dieser Beschreibung entsteht ein Bild vor dem inneren Auge – ein Bild von Arbeitsblättern, die sich Lehrende aus dem Netz ziehen, die sie überarbeiten und vervielfachen können, ohne dabei Angst vor Urheberrechtsverletzungen haben zu müssen. Klingt nach Arbeitserleichterung bei der Unterrichtsvorbereitung. Wieso ist das also nicht schon längst Praxis?

 

Ist das wirklich so einfach? Dreht sich bei OER alles um die Erstellung, Bereitstellung und Weiterentwicklung von Arbeitsblättern und Co. für den Schulunterricht? Klingt recht simpel. Ist dafür wirklich eine Debatte über ein gesamtes Wochenende nötig? Wie sich im Vorfeld und dann auch während des OERcamps zeigte, ist weder die Übersetzung von OER und damit verbunden das beschriebene Bild vor dem inneren Auge, noch das Wissen im Bildungssektor über OER ausreichend, um in diesem Zusammenhang von simpel zu sprechen. OER sind immer noch Fremde in Deutschland, über die wenig gesprochen und mit denen wenig gearbeitet wird. Und hinter OER scheint weit mehr zu stecken als das reine Downloaden von Arbeitsblättern. Einige Wenige sehen bereits jetzt großes Potential für den Schulunterricht und die außerschulische Bildung in ihnen, so großes, dass sie sich für eine stärkere Verbreitung und Nutzbarmachung der Materialien einsetzen möchten. Hauptsächlich diese Menschen waren es, die sich am vergangenen Wochenende trafen, um auf dem OERcamp umfassend über selbige zu diskutieren, ihr Wissen zu erweitern und OER in Deutschland bekannter zu machen.

 

Die Diskussion über OER in Deutschland bekam mit dem Schultrojaner, über den im Herbst 2011 heftig diskutiert wurde, etwas Aufwind. Seitdem berichten einige Internetportale und Blogs über OER, die Entwicklung in anderen Ländern oder über Vorstöße in Sachen OER auf deutschem Boden. Engagierte und interessierte Lehrende sowie außerschulische Bildnerinnen und Bildner setzen sich zunehmend mit dem Thema auseinander und Initiativen entstehen, die OER in Deutschland etablieren möchten. Andere Länder wie beispielsweise Polen, Großbritannien oder die USA zeigen sich hier in Wort und Tat etwas weiter.

 

Das erste OERcamp folgte dem Prinzip von sogenannten barcamps – Veranstaltungen, die keinem feststehenden und von wenigen erdachtem Programm folgen. Vielmehr richtet sich das Programm nach den Interessen und Vorschlägen der Teilnehmenden. An jedem Morgen eines barcamp-Tages findet ein vorangestelltes Treffen statt, um das Programm für den anstehenden Tag zu entwickeln. Alle Teilnehmenden, die ein Thema, eine Idee oder ein Projekt diskutieren möchten, können eine sog. Session anbieten. Diese stellen sie morgens kurz vor und das Plenum bekundet per Handzeichen sein Interesse. Es finden in der Regel mehrere Sessions parallel statt. Sie dauern 45 Minuten und die Hauptzeit wird auf die Diskussion verwendet. Aus diesem Grund zeigt es sich auch als Fehler, im Zusammenhang mit barcamps von Teilnehmenden zu sprechen. Denn das Nehmen spielt nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist das Geben. Alle sollen sich einbringen, weshalb sich in barcamp-Kreisen die Bezeichnung Teilgebende durchgesetzt hat.

 

Wie facettenreich das Thema OER ist, zeigt sich in der Vielzahl von Sessions mit sehr unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung. In einer Session wird über konkrete Schritte zum ersten freien digitalen Schulbuch gesprochen, nebenan diskutieren die nächsten, ob OER ein ideologisches Thema ist und den Flur runter gehen andere der Frage nach, was OER mit digitaler Integration zu tun hat. Hat man keinen Slot ausgelassen, konnte man in zwei Tagen zehn reguläre Sessions zu unterschiedlichen Themen besuchen – ganz sportliche, die zwischen den parallel stattfindenden Sessions hin und her springen, sogar mehr.

 

Dass sich hinter OER mehr verbirgt als das legale Ziehen von Arbeitsmaterialien aus dem Internet, zeigte vor allem die Session, die der bloggende Lehrer Felix Schaumburg am letzten Camptag unter dem Titel „Whitepaper OER 1.1/2.0“ initiierte. Gemeinsam mit Jöran Muuß-Merholz und Mirjam Bretschneider verfasste er im März 2012 ein Whitepaper OER, das den derzeitigen Stand der Diskussionen um OER in Deutschland zusammenfasst. Nun soll eine zweite Version entstehen. Die Session diente dazu, Feedback zum ersten Paper zu generieren und neue Aspekte für die zweite Version zu sammeln. Während sich die Tafel im Arbeitsraum immer weiter mit Ideen füllte, zeigte sich die tatsächliche Dimension von OER: Mit OER ist ein Umdenken der Verlage, ein Umdenken vieler Lehrender im Umgang mit dem Internet, eine stärkere Thematisierung von OER in Medien und Politik und ein Umdenken von Lehren, Lernen und Schule nötig. Nicht nur für Lehrende könnten OER eine Bereicherung sein, auch für die außerschulische Bildung, die Hochschulbildung und das individuelle Lernen stellen OER einen Mehrwert dar. 

Da sich OER noch als sehr konfuses Thema zeigen, eröffnete diese Sammlung von Ideen und Anregungen einen breiteren Blick darauf. Ebenso birgt das Whitepaper und sein weiterentwickelter großer Bruder, das Potential, die Diskussionen um OER zu bündeln, sich einen Überblick zu verschaffen und so eine allgemeingültigere Grundlage zu entwickeln, auf der weiter diskutiert werden kann. Diese Grundlage fehlte bislang.

 

Auch die anderen Sessions zeigten gerade in ihrer Spezifität den Facettenreichtum des Themas. Besonders beeindruckend war beispielsweise die Session zum Onlineportal „tacitus.cc“. Hier stellten drei Schüler ihr eigens initiiertes Internetportal vor. Es entstand aus der Idee heraus, die erstellten Lernblätter vor Klausuren mit den Mitschülerinnen und -schülern teilen zu können. Dafür erstellten sie ein Weblog, auf dem alle Lernenden ihrer Schule die eigenen Lernmaterialien hochladen und die anderer herunterladen können. Die Lernblätter stehen unter der Creative Commons-Lizenz. Die Schüler kreierten ein Portal für OER, ohne dies zu wissen. Nach anfänglicher Skepsis und dem Verdacht, es ginge bei der Initiative der Lernenden nur um Abschreiben, meldeten sich auch einige Lehrerinnen und Lehrer im Portal an. Aus dem Vorstoß der Schüler entstand neben dem Lernportal ein Online-Vertretungsplan und ein Nachhilfeportal, bei dem sich Schülerinnen und Schüler eintragen können, um ihre Hilfe in bestimmten Schulfächern anzubieten. Daneben regten die Portalmacher an, allen Lehrenden eine Schul-Mail-Adresse zuzuweisen, was es zuvor nicht gab und was schließlich durchgesetzt werden konnte.

 

Dass sich die Entwicklung in der deutschen Bildungswelt als träge erweist, liegt vor allem daran, dass es kaum große Player im Feld der OER gibt. Die wenigen Onlineportale, die den Austausch von OER ermöglichen, werden von den meisten OERcamp-Besucherinnen und Besuchern als nicht zufriedenstellend empfunden. Entweder zeigen sich die Seiten als unattraktiv aufbereitet, vor allem aber bieten nur wenige Materialien an, die tatsächlich Open Educational Resources sind. Viele kleinere Portale verstecken sich indes in den Untiefen des Netzes. Es gibt keine zentrale Bündelung der Portale, keine wegweisende Internetseite, die das Thema OER erfasst, keinen ernsthaften staatlichen Vorstoß, sich der Förderung von Open Education anzunehmen und keine Stiftung, die hier aktiv tätig ist. Einige wenige Institutionen wagen erste Vorstöße zur Bereitstellung von Materialien unter Creative Commons-Lizenz und zur Entwicklung von Suchmaschinen, die es ermöglichen solche Materialien auffindbar zu machen – derzeit noch mit Einschränkungen.

 

Immer wieder fielen während des OERcamps Beispiele von Initiativen, Webseiten und Vorstößen anderer Länder wie beispielsweise die staatliche Initiative in Polen. Auf deutschem Boden gibt es Aufholbedarf. Mit Aktionen wie dem OERcamp sind die ersten Schritte zu einer stärkeren Verbreitung der Diskussion um Open Education getan. Bis zum nächsten OERcamp gilt es, die kommenden Entwicklungen abzuwarten und zugleich initiativ zu sein. Vielleicht ist es schon bald möglich, über Suchmaschinen OER zu allen Fachrichtungen zu finden, sich privat in Open Courses weiterzubilden oder gemeinsam mit Lernenden Materialien in München zu erstellen, die in Hamburg im Schulunterricht zum Einsatz kommen. Nicht zuletzt könnte eine solche Entwicklung dazu führen, dass mehr Menschen Zugang zu Bildung erlangen, ohne dafür große finanzielle Mittel aufwenden zu müssen.