Seit wann bestand die NS-Psychiatrie in Lüneburg? In wie vielen Städten Deutschlands steht ein Denkmal der grauen Busse? Was sind die Hintergründe des Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen? Die App “Erinnerungsorte” der Bundeszentrale für politische Bildung kann diese Fragen beantworten und öffnet damit einen neuen Zugang zu geschichtsträchtigen Orten des Nationalsozialismus. Johanna Kindermann, Mitarbeiterin von werkstatt.bpb.de und Online Journalismus-Studentin, überlegt sich, wie Schulunterricht mit der App aussehen könnte. 

 

Eine Geschichtsstunde mit der App

Mit der App “Erinnerungsorte” ist eine Geschichtsstunde möglich, die den Bezug zur Gegenwart herstellt. Anders als ein Geschichtsbuch verdeutlicht sie, dass Geschichte noch aktuell ist. Menschen und Orte spüren immer noch ihre Nachwirkungen. In einem fiktiven Unterricht könnte die Benutzung folgendermaßen ablaufen: “Schaut euch einmal die Bildungs- und Gedenkstätte ,Opfer der NS-Psychiatrie in Lüneburg‘ an”, würden die Lehrenden sagen. Die Schülerinnen und Schüler scrollen einen Moment lang und suchen den Ort über die Suchfunktion. Ein Bild eines Turms, der einer alten Kirche gleicht, erscheint auf dem Bildschirm. Ein Schüler liest vor, dass dort eine Tötungsanstalt für Kinder eingerichtet war.

 

Direkt unter dem Beschreibungstext steht, dass die Gedenkstätte nur jeden dritten Samstag des Monats geöffnet ist. “Nächstes Wochenende planen wir einen Ausflug”, könnte ein Lehrer oder eine Lehrerin den Unterricht schließen. “Wir besuchen die Psychiatrie.” Die Jugendlichen scrollen weiter runter und entdecken die Kontaktdaten. Am darauffolgenden Samstag machen sie sich auf den Weg zur Erinnerungsstätte. Je nach Entfernung der Schule könnten auch näher gelegene Erinnerungsorte aufgesucht werden, zum Beispiel das Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm.

 

Die Schülerinnen und Schüler blicken auf die in der App integrierte Karte. Da sie keine direkte Route angezeigt bekommen, sind sie versehentlich einen weiten Umweg gelaufen. Als sie dann vor der Gedenkstätte stehen, ist es ein ganz anderes Gefühl, als nur im Klassenzimmer davon zu reden. Am nächsten Schultag beschreiben die Jugendlichen den Besuch: “Wenn man an so einem Ort steht, wird man gezwungen, sich mit der Geschichte auseinander zu setzen. Es kommt einem realer vor und man fängt an zu hinterfragen.” Genau das sollte erreicht werden, das ist auch ein Ziel der App.

 

Attraktive Erweiterungen für Userinnen und User

Mit den vorhandenen Funktionen gleicht die App bisher einem elektronischen Reiseführer. Noch mehr könnte sie mit einigen Erweiterungen bieten. Denkbar wäre zum einen ein ortsgebundener Hinweis, der die Erinnerungsorte mit dem individuellen Alltag verknüpft. Befinden sich Jugendliche oder andere Nutzende in der Nähe eines dieser Orte, bekämen sie eine kurze Meldung auf dem Bildschirm: “Sie sind 1 km vom Denkmal ,Der verlassene Raum‘, entfernt.” Anschließend könnten sich Lehrende und Schülerinnen und Schüler via Routenbeschreibung dorthin führen lassen.

 

Um den interaktiven Gebrauch der App zu stärken, könnten mit einer weiteren Schaltfläche “Neue Orte” als “Nutzer Orte” hinzugefügt werden. Damit würde sich die Liste füllen und dazu auch kleinere Orte aufnehmen, zum Beispiel ein altes Hinweisschild in einer U-Bahnstation oder ein Stolperstein. Dies wäre auch eine gut vorstellbare Aufgabe für den Geschichtsunterricht. Momentan ist es zwar möglich, neue Orte per E-Mail an die bpb-Redaktion zu schicken, allerdings würden sicherlich mehr Interessierte die Option bei einer Schaltfläche nutzen.

 

Eine weitere Idee wäre auch die persönliche Erinnerungskarte. Dort könnte man seine persönlichen Stecknadeln stecken und beschriften: “Bein gebrochen 1998” oder “Erster Kuss mit Franz”. Diese eigene Karte hätte den Nebeneffekt, dass andere Nutzer und  Nutzerinnen verstehen lernen, weshalb Orte so mit Geschichte verbunden sind und was sie den Menschen bedeuten. Aber vielleicht führt das zu weit und würde den Rahmen einer solchen App sprengen.

 

Erweiterungen für den Unterricht

Für den Einsatz im Unterricht wäre zusätzlich vorstellbar, die Erinnerungsorte durch Hintergrundmaterial wie Zeitzeugenberichte, Reportagen oder historische Fotos zu ergänzen. Würde dann im Rahmen des Geschichtsunterrichts auf das ,Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen‘ geklickt werden, bekämen die Schülerinnen und Schüler nicht nur ein Bild, den Standort und die Beschreibung angezeigt. Zusätzlich würden sie auch einen Bericht eines damals entkommenen Homosexuellen erhalten.

 

Außerdem wären sicherlich weiterführende didaktische Aufgaben und Fragen anregend, so könnte es zur Ulmer DenkStätte Weiße Rose etwa folgende Aufgabe geben: Wie waren die letzten Tage der Geschwister Scholl? Oder: Welche Ziele verfolgte die Weiße Rose? Aber es kann auch ethischer Natur sein, etwa: Wie sähe dein Leben aus, wenn die Meinungsäußerung heutzutage wie im Dritten Reich mit dem Tod bestraft würde? Damit könnte die App wirklich unterrichtsbegleitend wirken.

 

Zusammenfassend ist “Erinnerungsorte” eine schöne App. Kostenlos für jeden zugänglich schenkt sie tatsächlich einen neuen Zugang zur Auseinandersetzung mit den Gedenkstätten des Nationalsozialismus. Als erweiterte Vision für den Geschichtsunterricht fehlen noch einige Funktionen, um die App für die spannende und effektive Aufbereitung eines Themas nutzen zu können. Allerdings ist die App mit ihrer kurzen Lebenszeit (veröffentlicht im Juli 2012) noch sehr wachstumsfähig. Vielleicht könnte dieser fiktive Unterricht dann auch wahr werden.

 

Foto: Kooperative Berlin