Sie sind die Stars am Himmel des Nachmittagsprogramms im Fernsehen: “Scripted Reality”-Formate. Sie geben vor, Realität abzubilden, folgen aber einem Drehbuch. Karo Krämer führt in ihrem Artikel die Geschichte des Reality-TV auf, geht der Frage nach, wer die Zuschauer solcher Sendungen sind und erläutert, warum auf dem Pausenhof der Unterhaltungswert einer Geschichte bedeutsamer ist als die Möglichkeit, sich eine kritische Meinung zu bilden.

 

Keiner schaut sie und trotzdem kennt sie jeder: Reality TV-Sendungen laufen im aktuellen Nachmittagsprogramm der Privatsender rauf und runter. Vom getürmten Töchterchen in Familien im Brennpunkt bis zum Modelleisenbahn-Freak in Verdachtsfälle bietet vor allem der Fernsehsender RTL jeden Tag eine Fülle an Formaten und Fremdschammomenten. Ganz neu ist die Idee, eine „Realität nach Drehbuch“ zu inszenieren, allerdings nicht. Schon 1953 bat der Fernsehkoch Clemens Wilmenrod im öffentlich-rechtlichen Programm des WDR „zu Tisch“. Als Richterin Barbara Salesch 1999 zum ersten Mal auf Sat.1 ihr Urteil sprach, hätte allerdings wohl noch keiner gedacht, dass Gerichtsshows den Sendeplatz der bis dato dominierenden Talk-Shows einnehmen würden. Doch auch für die TV-Richterinnen und -Richter hat mittlerweile das letzte Fernsehstündlein geschlagen. So geht es in den aktuellen Reality-Sendungen vor allem um Familien- und „soziale“ Geschichten, die je nach Format mit Laiendarstellern oder „echten“ Menschen inszeniert werden.

 

Wer aber schaut sich Sendungen wie Familien im Brennpunkt, Verdachtsfälle und Co. überhaupt an und warum? Handelt es sich wirklich um sogenanntes „Unterschichten-TV“? Bezogen auf jugendliche Zuschauer scheint die JIM-Studie 2010 diese Annahme zunächst zu bestätigen. So besitzen bildungsfernere Jugendliche zumindest häufiger ein Fernsehgerät als ihre bildungshöheren Altersgenossen. Den Vorwurf des „Unterschichten-Fernsehens“ weist die RTL-Jugendschutzbeauftragte Daniela Hansjosten dennoch entschieden zurück: „Die Sendungen werden ebenso von Akademikern und Studenten geschaut.“ Doch fernsehen ist nicht gleich fernsehen. Die Art und Weise, wie ein Format rezipiert wird, hängt sowohl von der Mobilität des Übertragungsmediums als auch der jeweiligen Lesart des Zuschauers ab, bzw. wie und mit wem er rezipiert. Ein wohlbehüteter Gymnasiast dürfte sich milieubedingt demnach kaum in den Problemen einer gestressten Hartz IV-Mutter wiederfinden, da eine solche Person nicht zu seinem direkten Umfeld geschweige denn zu seiner Peer Group gehört. Entgegengesetzt wird es einem Jugendlichen aus sozial niedrigen Verhältnissen schwer fallen, Bezüge zur Luxusproblemwelt der Ärzte und Pferdegestütsbesitzer im öffentlich-rechtlichen (Vor-)Abendprogramm herzustellen. Während sich der eine also (ob bei der Hartz IV-Mutti oder dem Gestütsbesitzer) vor Lachen kringelt, findet sich ein anderer in den sozialen oder persönlichen Problemen der Geschichte wieder. Video on Demand und Smartphone sei Dank kann das entsprechende Video schon am nächsten Tag auf dem Schulhof die Runde machen. Eine wichtige Funktion nehmen dabei das Sprechen über Inhalte und die damit verbundene Positionierung ein. Wer nicht mitreden kann, weil er die Sendung nicht kennt oder gesehen hat, steht schnell außerhalb. Ob eine Geschichte wahr ist oder nicht, ist hingegen zweitrangig. Wichtig ist vor allem, ob sie einen Unterhaltungswert hat.

 

Dass sich im Reality TV tatsächlich auch „echte“ Menschen zum unterhaltsamen „Horst“ machen, wird in der pseudodokumentarischen Sendung Mitten im Leben (RTL) deutlich. Im Gegensatz zu gescripteten Formaten gibt es hier zwar kein festes Drehbuch, dennoch folgt die Nachstellung von bereits vorgefallenen Konflikten einem dramaturgischen Leitfaden. Eine deutliche Unterscheidung, ob es sich um ein gescriptetes oder nicht gescriptetes Format handelt, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Aufgrund ihrer Kamera- bzw. schauspielerischen Unerfahrenheit agieren die Protagonisten in beiden Fällen als Darsteller der eigenen oder im Drehbuch verankerten Geschichten. Zu entscheiden, ob das Gezeigte „echt“ ist oder nicht, scheint sowohl Erwachsenen als auch Jugendlichen entsprechend schwer zu fallen. In ihrer Studie „Wie Kinder und Jugendliche Familien im Brennpunkt sehen“ hatte die Medienwissenschaftlerin Maya Götz (Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen IZI) 2011 festgestellt, dass fast die Hälfte der 6- bis 18-Jährigen die ausgedachten Fälle für echte Ereignisse hielten und immerhin 30 Prozent davon überzeugt waren, dass eine tatsächliche Dokumentation der Erlebnisse stattfindet. „Schuld“ daran ist vor allem der Einsatz dokumentarischer Stilmittel, wie (Hand-)Kameraführung und inszenierte Datenschutzhinweise. Auch die alltagsnahe Sprachwahl trägt zur Inszenierung von Authentizität bei. In der Boulevard- und Fachpresse kam es diesbezüglich immer wieder zur Kritik an einem niederen Sprachniveau. Dementgegen ergab eine Inhaltsanalyse der Sendung Familien im Brennpunkt von Joachim von Gottberg (FSF) und Peter Stawowy (stawowy media), dass bei der Mehrheit der codierten Folgen mit einer normalen Wortwahl kommuniziert wird. Was in diesem Zusammenhang als „normal“ oder angemessen gilt, ist wiederum diskutabel und vom gesellschaftlichen Kontext des Zuschauers abhängig.

 

Auch wenn die Verknüpfung von non-fiktionalen und fiktionalen Stilmitteln keine Erfindung des Reality TV ist, so hat die Art und Weise ihrer Anordnung eine neue Qualität erfahren. Geht man vom bloßen Unterhaltungsanspruch des Zuschauers bzw. Jugendlichen aus, kann es ihm zwar egal sein, ob die Tränen von Frau F. aus Köln nur laienhaft geschauspielert sind, oder ob ihr ein Realisator die Anweisung zum Seelenstriptease gegeben hat. Ist die Möglichkeit zu einer medienkompetenten Bildung, das heißt in diesem Fall Kenntnisse über die Machart und Produktion von Fernsehformaten zu erlangen, jedoch erst gar nicht gegeben, so wird er um die Chance gebracht, sich über die reine Bespaßungsebene hinaus eine kritische Meinung zu bilden. Umso wichtiger ist es, den Diskurs um Medienkompetenzen nicht im wissenschaftlichen Kämmerlein, sondern zusammen mit Jugendlichen auszutragen und an ihre Lebenswelten anzuknüpfen. Voraussetzung dafür ist wiederum die Ausbildung medienqualifizierter Pädagogen sowie vor allem deren Bereitschaft zur Weiterbildung. Da der Wahrheitsgehalt einer Geschichte ohnehin dem Unterhaltungsinteresse zu unterliegen scheint, dürfte dies dem Privatfernsehen und seinem Vermarktungskonzept kaum schaden. Schließlich ist ein Horrorfilm auch immer noch spannend, obwohl man weiß, dass alles nur Ketchup ist.

 

 

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