Am 20. Juni hat der Forschungsverbund SED-Staat die Ergebnisse einer Studie über die Geschichtskenntnisse deutscher Jugendlicher vorgestellt. Schon der Titel “Später Sieg der Diktaturen?” lässt keinen Zweifel: Was die NS-Zeit oder die DDR angeht, sind die heutigen Schülerinnen und Schüler ahnungslos – so zumindest das Fazit der Studie. Und während ein Großteil der Medien die “erschreckenden Erkenntnisse” schlagzeilenträchtig verbreitet, zweifeln andere an der Objektivität des vierköpfigen Forschungsteams.

 

Zwischen 2009 und 2012 haben die Politologen Klaus Schröder, Monika Deutz-Schroeder, Rita Quasten und Dagmar Schulze Heuling rund 7.500 Schülerinnen und Schüler aus neunten und zehnten Klassen befragt. Sie wollten herausfinden, was Jugendliche über den Nationalsozialismus, die DDR, die alte Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland wissen, und wie sie über historisches Geschehen urteilen.

 

Die Ergebnisse (hier eine Zusammenfassung der Studie als pdf) klingen auf den ersten Blick erschreckend: So hält nur jede zweite Schülerin bzw. jeder zweiter Schüler das Nazi-Regime für eine Diktatur und ein Drittel der Befragten ist der Meinung, in der DDR habe es freie Wahlen gegeben. Umgekehrt bezeichnen lediglich 60 Prozent das wiedervereinigte Deutschland als Demokratie.

 

Die Alarmisten

Und was machen die Medien daraus? Wenn ein Fußballer einen schlechten Tag erwischt hat, wird er tagsdrauf mit einer saftigen Sechs in der Bild-Zeitung abgestraft. Keine Überraschung, dass sich auch “Deutschlands Jugendliche” ein Zeugnis abholen dürfen. “Die vernichtende Note: Zeitgeschichtswissen, fünf” lautet der Untertitel des alarmistischen Bild-Artikels. Den gleichen Ton schlagen die (derzeit) 160 Kommentatorinnen und Kommentatoren unterhalb des Textes an.

 

Doch nicht nur Deutschlands größtes Boulevardblatt hat sich den Studienergebnissen angenommen. Nahezu jedem Onlinemedium war das Thema eine Schlagzeile wert. Die einzelnen Artikel unterscheiden sich dabei allerdings nicht wesentlich. Focus, Stern, Welt, SZ, Zeit Online und Spiegel Online beschränken sich darauf, die Wissenslücken anzuprangern und die Empfehlungen der Studie (“eine konsequentere Lehre der freiheitlich-demokratischen Grundordnung an deutschen Schulen”) wiederzugeben. Bemerkenswert bei den beiden Letztgenannten: 255 (Zeit Online) bzw. 282 (Spiegel Online) Kommentare zeugen von der Empörungsträchtigkeit des Themas.

 

Die Kritiker

Genau da wollen aber nicht alle mitmachen. Einige Zeitungen werfen einen differenzierteren Blick auf die Studie. So macht etwa die Leipziger Internet Zeitung gleich mit der Überschrift deutlich, was sie von den Ergebnissen hält: “Eine Schüler-Befragung mit Scheuklappen und falschen Ansätzen“. Der (lange) Artikel hinterfragt die Objektivität des “Forschungsverbund SED-Staat”. Diese sei auf ein undifferenziertes Totalitarismus-Modell fixiert, das durch Gleichsetzung von SED-Diktatur und NS-Regime das Letztere relativiert. Außerdem bezeichnet der Autor Ralf Julke die Empfehlungen der Studie als “Unding”. Forscher seien schließlich Wissenschaftler und keine Politikberater.

 

Weniger ausführlich, aber nicht minder scharfzüngig kommentiert Jan Sternberg in der Märkischen Allgemeinen. Er hält es für völlig überzogen, die Ergebnisse der Studie als “Gefahr für die Demokratie” zu bezeichnen und schließt mit den Worten: “Seine Kritiker bügelt Schroeder [Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat] als politisch motiviert ab. Trommeln kann er gut. Vielleicht besser als forschen.”

 

Ähnlich kritisch äußert sich die linke Tageszeitung junge Welt. Jana Frielinghaus bescheinigt den Forschern Voreingenommenheit. Sie glaubt, dass sich Politik und Mainstreammedien seit Jahr und Tag bemühten, die DDR als Diktatur und das wiedervereinigte Deutschland als lupenreine Demokratie zu verkaufen – dass die heutigen Schülerinnen und Schüler das anders sähen, zeuge nicht von mangelndem Geschichtsbewusstsein, sondern resultiere aus “praktischer alltäglicher Ohnmachtserfahrung”.

 

Auch die Berliner Zeitung beschäftigt sich mit dem Thema. Anders als Klaus Schroeder hält Alice Ahlers die Ergebnisse nicht für dramatisch. Sie zitiert Peter Lautzas, den Vorsitzenden des Verbands der deutschen Geschichtslehrer (mit dem auch der Deutschlandfunk gesprochen hat), der sagt: “Ich habe ein durchaus positives Bild von den heutigen Schülern.” Außerdem lasse sich aus der Studie nicht ableiten, dass die Schülerinnen und Schüler heute weniger über Geschichte wüssten als früher – dazu fehlte es an Vergleichsstudien.

 

Die FAZ überlässt Josef Kraus, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, das Wort. Mit recht hochtrabenden Worten und reichlich Pathos nimmt er die Studie zum Anlass, eine Stärkung des Unterrichtsfachs Geschichte zu fordern. Junge Leute, sollten sie denn mündige Staatsbürger sein, brauchten fassbares historisches, ja kanonisches Wissen als Bollwerk gegen den Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, so sein Fazit.

 

Dieses Fazit hält der Historiker Christoph Pallaske für wenig hilfreich. Er kritisiert die Methodik der Studie und bilanziert: “Der Geschichtsunterricht steht heute besser da als noch vor Jahren.” Auch Daniel Bernsen, regionaler Fachberater für Geschichte in Koblenz, bezweifelt die Aussagekraft der Ergebnisse. Gleichwohl sieht er Verbesserungsbedarf in Sachen Geschichtsvermittlung und macht sich Gedanken, wie solche Reformen im Schulunterricht umgesetzt werden könnten.

 

Der Forscher

Nach reichlich Kritik soll zum Abschluss noch einmal der Kritisierte selbst zu Wort kommen. Im Interview mit der Zeit spricht er über die “schockierenden Ergebnisse”, die er als “zeithistorischen Analphabetismus” bezeichnet. Wer lieber hört als liest: Auch Deutschlandradio Kultur hat dem Forscher (relativ unkritische) Fragen über seine Studie gestellt.

 

Foto: flickr.com / Axel Schwenke / Erdfunkstelle Usingen 2005 / CC BY-SA 2.0