Knappe 25 Jahre nach dem Ende der DDR ist die Auseinandersetzung mit dem vergangenen Staat für Schülerinnen und Schüler häufig wenig reizvoll. Vor allem, wenn die Jugendlichen selbst die Diktatur gar nicht mehr miterlebt haben. Wie kann aber das Interesse für die jüngst vergangene Geschichte Ostdeutschlands hergestellt werden? Michael S. Rauscher, Dozent für politische Bildung der außerschulischen Bildungsstätte wannseeFORUM erläutert in dem Artikel die Vorteile des Einsatzes von Zeitzeugen in der historisch-politischen Bildung.

 

Das Jahr 1989 steht in Europa für einen historischen Wandel, der nicht nur die beiden deutschen Staaten zusammengeführt, sondern Auswirkungen auf die politische Gestaltung ganz Europas gehabt hat. Es steht symbolisch für den Fall des Kommunismus und der osteuropäischen Diktaturen. Dabei sind Grenzöffnung und Mauerfall in Berlin von symbolischer Ausdruckskraft und auch der Schülergeneration, die nach dem Mauerfall geboren wurde, zumindest ein Begriff. Das Wissen über die DDR als Diktatur, über ihre Herrschaftsstrukturen, ihre Mangelwirtschaft, die fehlende Meinungs- und Reisefreiheit ist bei den Schülerinnen und Schülern allerdings sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ich muss an dieser Stelle nicht ausführen, welche Irrtümer und welche Unwissenheit unter zahlreichen Jugendlichen vorherrschen. Darüber haben sich viele Medien zu Genüge amüsiert oder erregt.

 

Die Jugendlichen, die sich in ihrem Elternhaus oder dem Geschichtsunterricht wissbegierig mit der jüngsten Geschichte auseinandergesetzt haben, gibt es allerdings auch, nur geraten sie nicht in den Blickpunkt von Journalisten. Ich möchte an dieser Stelle davon berichten, auf welche Weise sich Jugendliche Geschichte aneignen können, ohne dass es zu einem Auswendiglernen von Zahlen und vorgegebenen Interpretationen kommt. Vielmehr geht es hier um das historische Lernen mit Zeitzeugen mittels Oral History. Der Begriff der Oral History sagt zunächst nur etwas über die Methode der Geschichtsaneignung aus: Es geht hierbei um mündlich erfahrene Geschichte, im Gegensatz zur Erforschung schriftlichen Quellenmaterials. Und zugleich geht es bei Oral History um erinnerte Geschichte. Die Erinnerungen werden bei einem Gespräch mit einer Zeitzeugin oder einem Zeitzeugen von einem oder mehreren InterviewerInnen erfragt und ggf. wachgerufen.

 

Hier zeigt sich, dass die Methode der Oral History gerade für Jugendliche spannend sein kann. Während Schülerinnen und Schüler häufig nicht nachvollziehen können, warum sie Zahlen, Fakten oder Ereignisse lernen sollen, erschließt sich der Sinn von Zeitzeugengesprächen schneller. Durch die Interaktion mit einem Menschen, der bestimmte Dinge selbst erlebt hat und davon selbst berichten kann, können sie Geschichte als etwas erfahren, das noch heute existiert und den Bezug zu ihrem Leben herstellen kann. Das Gespräch mit einem Zeitzeugen oder einer Zeitzeugin kann deutlich machen, dass “Geschichte nicht nur gestaltete, sondern auch (und zumeist) erlebte, erfahrene (und auch erlittene) Geschichte ist und dass sie gerade als solche, im reagierenden Handeln und im Verhalten von einzelnen oder Gruppen, in hohem Maße wirkungsmächtig sein kann” (Herwart Vorländer, Oral history). Im Gegensatz zum Expertengespräch mit einer Historikerin oder einem Journalisten zeigt das Gespräch mit “gewöhnlichen” Zeitzeugen deutlich authentischere Züge, da die Befragten das Berichtete (zumeist) tatsächlich selbst erlebt haben. Dabei kann Oral History durchaus als “Alltagsgeschichte” verstanden werden, aber genauso gut je nach Zeitzeugen “Herrschaftsgeschichte” sein. Dass Schülerinnen und Schüler zunächst der mündlich erfahrenen Alltagsgeschichte weniger Wert beimessen als der niedergeschriebenen Geschichte in ihrem Lehrbuch, sollte nicht verwundern, sondern eher ein Ansporn sein, sie als Ergänzung von Geschichtsforschung einzusetzen.

 

Mit Schülerinnen und Schülern aus Pankow und Buckow haben wir wenige Wochen vor dem 20. Jahrestag des Mauerfalls “Die Rolle der Staatssicherheit in der DDR” untersucht. Die  Zeitzeugengespräche begannen schon vor dem Seminar: Die Schülerinnen und Schüler hatten die Aufgabe, ihre Eltern und Großeltern zu ihren Alltagserfahrungen von Freiheit und Repression im geteilten Deutschland zu befragen. Insbesondere aus dem Ostbezirk haben die Jugendlichen bewegende Geschichten von Unterdrückung und Widerstand zum Seminar mitgebracht. Als Zeitzeuge wurde im Rahmen einer Abendveranstaltung Reinhard Schult, Mitarbeiter beim Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR befragt. Als Gesprächspartner wurde er aufgrund seiner interessanten Biografie ausgewählt: Nach der Kriegsdienstverweigerung und dem Dienst als Bausoldat geriet er während seines Theologiestudiums in die Gewalt des Ministeriums für Staatssicherheit und verbrachte acht Monate im Gefängnis. Er blieb in der Opposition und war 1989 Gründungsmitglied des Neuen Forums. Wir wählten als Gesprächsform zunächst das Zeitzeugengespräch mit biografischem Ansatz, um exemplarisch und möglichst authentisch von den Repressionsanstrengungen des Unrechtsstaats DDR zu erfahren. Das Zweiergespräch wurde selbstverständlich für die Seminarrunde geöffnet, so dass auch die Schülerinnen und Schüler Fragen stellen konnten.

 

Aus den Gesprächen mit Zeitzeugen ergibt sich, insbesondere wenn es sich um lang zurückliegende Ereignisse handelt, die Problematik des “richtigen” Erinnerns. Sind die Aussagen nicht bloß Rekonstruktionen, die nichts über die erlebte Vergangenheit aussagen, sondern nachträglich hinzugekommene Deutungen, Anpassungen oder Neubewertungen? Generell muss man diese kritischen Anmerkungen für alle Quellen machen, die von Menschen erstellt wurden. Hilfreich und notwendig ist es allerdings mit den Schülerinnen und Schülern möglichst gemeinsam zu erarbeiten, welchen Wahrheitsanspruch historische Quellen generell haben können. Nicht nur der Zeitzeuge selektiert und verdrängt, bewusst oder unbewusst und deutet seine Erlebnisse mit dem Verlauf der Zeit neu. Auch die Interviewerinnen und Interviewer beeinflussen das zu Erfahrende maßgeblich durch ihr Vorwissen, die Fragen, die sie vorbereiten und stellen sowie insbesondere durch ihre Interpretation der Antworten.

 

“Als die Mauer fiel …” waren die Teilnehmenden eines weiteren Seminars zur DDR Geschichte aus Buckow und Lichtenberg noch gar nicht geboren und zeigten sich nur wenig über die Ereignisse des Herbst 1989 informiert. Das Seminar wurde bewusst so terminiert, so dass die Teilnehmenden den Jahrestag der Grenzöffnung im Verlauf des Seminars erleben konnten. Als Zeitzeuge wurde hier Eberhard Grashoff, von 1980 bis 1990 Pressesprecher der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, interviewt und konnte viel zur Erhellung der Situation vor 20 Jahren beitragen. Mündliches Erfragen von Geschichte ist eine Methode historischen Forschens und Arbeitens, die sich in unseren Seminaren bewährt hat. Besonders erfolgreich ist sie, wenn die Fragesteller und Fragestellerinnen das Gespräch so leiten, dass die Befragten tief in ihre Erinnerungen eintauchen, dort wieder Bilder, Gerüche, Töne und Empfindungen hervorholen können und sich so auf den Prozess des Vergegenwärtigens einlassen. Das gelingt in der Regel besser in einer intimen Atmosphäre, mit nur wenigen Ohrenzeugen. Für die Situation eines Gruppengesprächs müssen an dieser Stelle, wie wir selbst erfahren haben, Abstriche gemacht werden. Ein weiterer Faktor des authentischen Gesprächs ist die Rolle des Zeitzeugen: Je mehr er als Experte auftritt, je öfter er aufgrund seiner Profession ähnliche Fragen beantworten muss, desto mehr können wir “reflektierte” Antworten erwarten – die kein Forscher hören möchte. Hier liegt die Kunst der InterviewerInnen das Persönliche, vielleicht noch nie so Überdachte und Gesagte, zu erfahren. Darüber sollte man mit SchülerInnen sprechen, wenn man Oral History als Methode verwendet. Und dass die persönlich erfahrene, erinnerte und erzählte Geschichte nicht mit der  “Geschichte” gleichzusetzen ist. Wertvoll ist sie aber allemal.

 

Der Text ist die gekürzte Version eines Beitrags von Michael S. Rauscher in einem Jahresbericht des wannseeFORUMs.

 

Foto: Flickr/sludgegulper