In welcher Welt leben sie, die Jugendlichen? Dieser Frage geht die Sinus-Jugendstudie nach. Die Antwort: in sehr unterschiedlichen. Den einen Stereotyp des Jugendlichen gibt es nicht. Sieben verschiedene Lebenswelten identifiziert die qualitative Studie zum Alltag, der Einstellung, dem Umfeld, den Interessen und Sorgen junger Deutscher zwischen 14 und 17 Jahren. Werkstatt.bpb.de hat mit Inga Borchard, einer der Autoren der Studie, über die zentralen Befunde und Ergebnisse gesprochen.

 

 

Am 28. März wurde die Sinus-Studie „Wie ticken Jugendliche 2012“ auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt. Wichtiger Bestandteil der qualitativen Studie ist die Einteilung der Jugendlichen in verschiedene Lebenswelten. Welche Lebenswelten konnten identifiziert werden? Und wie wurden sie identifiziert?

 

Ich würde hier nicht von Einteilung im Sinne von „Schubladisierung“ sprechen wollen. Wir haben ein Modell entwickelt, das die soziokulturelle Vielfalt abbildet. Wir betrachten verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit. Zum einen natürlich den formalen Bildungsgrad, der leider in Deutschland nach wie vor in hohem Maße mit der sozialen Lage der Familie korrespondiert. Neben demografischen Merkmalen betrachten wir vor allem die Wertorientierung, den Lebensstil bzw. die ästhetischen Präferenzen der jungen Menschen. Auf Basis der Vorstellungen, was wertvoll und erstrebenswert im Leben ist oder sein könnte, wurden Jugendliche zusammengefasst, die sich in ihren Werten, ihrer grundsätzlichen Lebenseinstellung und Lebensweise sowie in ihrer Bildung ähnlich sind. In einem an das Sinus-Milieumodell angelehnten zweidimensionalen Achsensystem, in dem die vertikale Achse den Bildungsgrad und die horizontale Achse die normative Grundorientierung abbildet, werden die Lebenswelten positioniert.

 

Gibt es zentrale Aspekte, die die unterschiedlichen Lebenswelten verbinden oder ein Thema, bei dem Einigkeit unter den Jugendlichen verschiedener Lebenswelten herrscht?

 

Die Jugendlichen stehen unter Druck. Sie nehmen wahr, dass der Wert eines Menschen in erster Linie an seiner Leistungsfähigkeit bzw. Bildungsbiografie bemessen wird. Bei fast allen ist auch der Wunsch nach Partnerschaft und Familie, also Kindern, groß, wobei sie gleichzeitig sehen, dass es nicht ganz leicht werden wird, den richtigen Zeitpunkt dafür zu erwischen, weil die Familiengründung eben oftmals an Bedingungen geknüpft wird – beispielweise einen sicheren Job zu haben, um die Familie auch versorgen zu können. Recht typisch ist die Einschätzung, dass man keine Zeit vertrödeln darf und früh den „richtigen“ Weg einschlagen muss, gleichzeitig aber auch flexibel für neue Wege bleiben sollte. Diesen Herausforderungen begegnen die meisten jedoch mit einem recht großen Bewältigungsoptimismus. Das heißt, die Jugendlichen wollen sich diesen Anforderungen stellen und sind auch zuversichtlich, dass sie sie meistern werden. Ausnahme sind jedoch die sozial stark benachteiligten Jugendlichen

 

Bei der Pressekonferenz wurde immer wieder davon gesprochen, dass es nicht DEN Jugendlichen gäbe, der als Stereotyp für jede Betrachtung herhalten könne. Durch die Aufteilung der Jugendlichen in Lebenswelten wird der eine Stereotyp in sieben neue aufgeteilt. Ist das wirklich eine Weiterentwicklung in der Betrachtung oder nur eine ausdifferenzierte Form alter Klischees, die versucht einer ausdifferenzierten Gesellschaft gerecht zu werden? Inwiefern hilft das bei der Generierung von Erkenntnissen?

 

Es ist ganz wichtig, im Blick zu haben, dass es sich um ein Modell handelt. Das heißt, das Lebensweltmodell ist eine vereinfachte Darstellung der Wirklichkeit, die natürlich sehr viel komplexer ist. Ich vergleiche das gerne mit dem Berliner U-Bahn-Fahrplan. Natürlich nimmt die U8 viel mehr Kurven, als die blaue Linie auf dem Plan das darzustellen vermag. Aber es geht darum, Orientierung zu ermöglichen und daher ist es notwendig, die Darstellung zu vereinfachen. Wir bezeichnen es auch als Sehhilfe. Wenn Sie Jugendlichen begegnen, dann finden sie vielleicht nur selten eine ganz typische Vertreterin einer bestimmten Lebenswelt. Die Wirklichkeit spielt sich oftmals sehr viel stärker in den Zwischenräumen ab – aber das ist eben auch charakteristisch für ein Modell. Wichtig ist, dass es diesem Modell doch gerade gelingt, mit sehr hartnäckigen Stereotypen aufzuräumen, beispielweise dem DES Hauptschülers. Denn das wird ja sehr deutlich, dass allein der angestrebte Schulabschluss nicht ausreicht, um zu begreifen, wie die jeweilige Person tickt.

 

„Wir haben keine Chance auf eine Berufsausbildung und ein Arbeitsverhältnis“ wird aus der Lebenswelt der sog. „Prekären“ zitiert. Auf der Pressekonferenz wurden sie auch als gesellschaftlich Unsichtbare bezeichnet. Wer sind diese Jugendlichen? 


Jugendliche in der Prekären Lebenswelt sind diejenigen mit den schwierigsten Startvoraussetzungen. Sie kommen häufig aus einem bildungsfernen Elternhaus, haben Erfahrungen wirtschaftlicher Unsicherheit, die Eltern sind immer wieder oder dauerhaft erwerbslos, die Jugendlichen selbst sind teilweise schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten – die Merkmale sind vielfältig, zentral ist jedoch, dass sich hier in der Regel mehrere ungleichheitsrelevante Merkmale verschränken und tendenziell gegenseitig verstärken. Die Rückzugstendenzen sind in dieser Lebenswelt im Vergleich am auffälligsten. Für die Jugendlichen ist es extrem schwierig in den für sie relevanten Kontexten Anerkennung zu bekommen: In der Schule bleiben Erfolgserlebnisse häufig aus. In der Peergroup ist die soziale Teilhabe auch deshalb gering, weil ihnen durch finanzielle Schranken der Zugang zum jugendlichen Konsummarkt verwehrt bleibt. Und aus der Mitte der Gesellschaft, zu der man ja gerne gehören möchte, fallen die Rückmeldungen insgesamt ebenfalls selten positiv aus. Wir sehen aber, dass diese Prekäre Lebenswelt für viele auch eine Durchgangspassage sein könnte, insbesondere dann, wenn die Jugendlichen selbst formulieren, dass sie „da raus wollen“. Wichtig ist, dass sie bei diesem Anliegen unterstützt werden.

 

Wesentliche Themen der Studie sind u.a. Schule und Ausbildung. Funktioniert das deutsche Bildungssystem aus Sicht der Jugendlichen? Was wird am meisten kritisiert?

 

Das ist zwischen den Lebenswelten mitunter sehr unterschiedlich. Explizite Kritik z.B. an der Schulreform, dem dreigliedrigen Schulsystem oder der Notengebung findet sich beispielsweise fast ausschließlich in der Sozialökologischen Lebenswelt. Diejenigen, die Schule eher als Ort des Scheiterns erleben, können ihre Kritik häufig nur schwer formulieren. Aber man wünscht sich, dass Leistungskontrollen auch mal einfacher gestaltet werden, um selbst ein Erfolgserlebnis haben zu können und dass es insgesamt gerechter und freundlicher zugeht. Typisch für hedonistische Lebenswelten ist der Wunsch nach Abwechslung, hier zeigt sich auch ein „Unterhaltungsanspruch“ und von langem Stillsitzen hält man eher wenig.

Die wichtigsten Kriterien bei der Schulbewertung sind bei fast allen Jugendlichen die Kompetenz, Empathie und Ausstrahlung der Lehrerschaft. Jugendliche in den bildungsnahen, modernen Lebenswelten betonen dabei die Relevanz von Kompetenz und Leidenschaft für das eigene Fach. Bildungsbenachteiligte Jugendliche legen Wert auf eine anerkennende, respekt- und verständnisvolle Umgangsweise.

 

Daneben setzt sich die Studie auch mit dem Thema Medien in den Lebenswelten Jugendlicher auseinander. Sie sind die Generation der „digital natives“, die sich in der Welt des Netzes zu Hause fühlen und sich dort auskennen. Spielen neue Medien tatsächlich eine so große Rolle in den Lebenswelten junger Menschen?

 

Das Internet ist ein ganz selbstverständlicher Bestandteil des Alltags Jugendlicher, die meisten sind auch mobil online. Wir konnten erkennen, dass das Nutzungsinteresse ganz klar den Unterhaltungsangeboten und sozialen Netzwerken gilt. Recherchen und Informationsbeschaffung werden von den meisten, zumindest in dieser Altersgruppe, noch eher als Aufgaben begriffen, denen man nachkommt, wenn man dazu aufgefordert wird. 

Die sozialen Netzwerke sind für die Jugendlichen immens wichtig, um die Freunde und Freundinnen zu treffen, wenn das physisch nicht möglich ist, in einigen Lebenswelten liegt der Fokus auch schon deutlicher auf einer breiteren Vernetzung. Wichtig ist aber, dass die Netzwerke zur Erweiterung und Ergänzung der sozialen Kontakte der Offline-Welt dienen und diese nicht ersetzen. Viele Jugendliche weisen darauf hin, dass es ihnen enorm wichtig ist, „Leute auch so zu kennen.“

Nicht vergessen darf man allerdings, dass sich nicht alle Jugendlichen als „Digital Natives“ im Netz bewegen. Es gibt in einigen Lebenswelten durchaus Vorbehalte und Ängste oder auch eine geringere Kompetenz im Umgang mit dem Internet und seinen Möglichkeiten. Medienbildung ist diesbezüglich also durchaus noch notwendig. 

 

Jugendliche verhalten sich aufgrund von erhöhtem Leistungsdruck und der Unsicherheit bezüglich ihrer Lebens- und Berufsaussichten wie „Mini-Erwachsene“ heißt es in der Pressemitteilung zur Sinus-Studie. Was ist damit gemeint?

 

Die Jugendlichen räumen traditionellen Werten wie Sicherheit, Pflichterfüllung oder Familie einen relativ großen Platz ein. Wir sprechen von Regrounding-Tendenzen. Als Folge von Unberechenbarkeit ergibt sich ein Bedürfnis nach Halt und Zugehörigkeit. So erscheinen sie, auch weil sie sich mit Hinblick auf die Leistungsanforderungen und ihre Zukunft mehrheitlich ausgesprochen abgeklärt zeigen, eben wie „Mini-Erwachsene“. Wichtig ist jedoch, dass es sich nicht einfach um einen neuen konservativen Zeitgeist handelt, sondern dass diese Werte von den meisten Jugendlichen um ich-bezogene hedonistische Werte und einen individualistischen Leistungsethos ergänzt werden. Die Kombination macht dabei das Neue aus. Es geht nicht länger um ein „entweder-oder“, sondern um ein „sowohl-als-auch“: Hart arbeiten und hart feiern, sparen und sich trotzdem auch etwas leisten, Job bzw. Karriere und Familie.

 

Politikverdrossenheit, Desinteresse, Faulheit – das sind Stichworte die häufig im Zusammenhang mit der Beschreibung Heranwachsender genannt werden. Wie viel Wahrheit steckt hinter diesen Klischees? 

 

Jugendlichen in diesem Alter bereits Politikverdrossenheit zu unterstellen, ist sicher gewagt. Wir können erkennen, dass die meisten Jugendlichen in Bezug auf den etablierten Politikbetrieb zwar leidenschaftslos sind, aber trotzdem sind sie politisch interessiert. Soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeiten, Gestaltung von Lebensräumen und eine ganze Reihe anderer Themen sind relevant für Jugendliche. Sie selbst verorten diese Themen jedoch nicht unter dem Schlagwort Politik. Man könnte sagen, die Jugendlichen – insbesondere die Bildungsbenachteiligten – sind politisch, ohne es zu wissen. Ganz klar ist, die Jugendlichen wünschen sich Sprachrohre, die ihre Themen in die Öffentlichkeit tragen, in einer Sprache, die die Jugendlichen verstehen. Politikerinnen und Politiker erfüllen diesen Wunsch kaum – das zeigt sich quer durch die Lebenswelten. Die Expeditiven finden dabei dann zum Beispiel jemanden wie Martin Sonneborn viel ansprechender. In Prekären Lebenswelten finden die Jugendlichen ihr Sprachrohr weiterhin ganz häufig in Bushido.

 

Grafik: Sinus Markt- und Sozialforschung 2011

Foto: flickr/brizzle born und bred