Anlässlich des diesjährigen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar wurde in den USA ein neues Werkzeug für die Bildungsarbeit mit Videos von Zeitzeugeninterviews vorgestellt. Verantwortlich dafür ist das USC Shoah Foundation Institute, das seit einigen Jahren Steven Spielbergs Visual History Archive betreut. Der Regisseur hatte 1994 eine Stiftung mit dem Zweck gegründet, die Aussagen überlebender NS-Opfer und von Augenzeugen aufzuzeichnen. Die Zeugnisse sollten nicht durch den nahenden Tod der Erlebnisgeneration verloren gehen. 

 

Bis dato wurden im Netz nur wenige Auszüge aus den über 52.000 Beiträgen als Video-Clips gezeigt. Nun eröffnet sich für registrierte Nutzer aus dem Bildungsbereich ein Zugang zu über tausend digitalisierten Aufzeichnungen: Unter dem plakativen Titel “IWitness” verspricht die Beta-Version dieser englischsprachigen Online-Plattform die Möglichkeit, so mit dem Material zu verfahren, wie Forscher und Vermittler dies seit Jahren tun: Avancierte Katalogisierung und minutengenaue Indexierung ermöglichen eine komfortable Auswertung der archivierten Quellen. Nutzer können Clips mittels Suchanfrage nach Orten, Personen und Themen recherchieren, in der Anwendung speichern und dann das Video bearbeiten. Aus der Kompilation von Sequenzen und der Aufnahme eines Audio-Kommentars entsteht  ein eigener Zusammenschnitt von Zeitzeugenerzählungen.

 

Ziel der Anwendung ist natürlich nicht ein beliebiges Patchwork. Das Potenzial liegt vielmehr darin, spezifische Perspektiven zur Geltung zu bringen sowie Zusammenhänge zwischen Mikro- und Makrogeschichte herzustellen. Zur Kontextualisierung erschließt IWitness zusätzlich online verfügbare Ressourcen etablierter erinnerungskultureller Einrichtungen für Hintergrund-Recherchen. Dazu gehört auch der Zugang zu Fotografien, die gespeichert und im eigenen Clip verwendet werden können. Die hier getroffene Auswahl an Institutionen vermittelt darüber hinaus die Einsicht, dass es im Netz außer Wikipedia noch andere einschlägige Angebote mit historisch relevanten Informationen gibt. Ein wichtiger Unterschied zur Online-Enzyklopädie muss in diesem Zusammenhang noch hervorgehoben werden: Es ist nicht intendiert, dass die erarbeiteten Inhalte das von IWitness konstituierte virtuelle Klassenzimmer verlassen.

 

Da die Anwendung viele Optionen bietet, werden eine Reihe von Angeboten gemacht, um die Komplexität zu reduzieren: Allen Nutzern stehen zur Einführung verschiedene Video-Tutorials, die auch ethische Aspekte thematisieren, zur Verfügung. Strukturiert wird die Projektarbeit dann durch eine Fortschrittsanzeige mit den Arbeitsphasen “Consider, Collect, Construct, Communicate”. Beispielhaft werden einige überschaubare Arbeitsaufgaben vorgestellt, aber selbst um diese zu bewältigen, sind wohl mehrere Besuche auf der Plattform notwendig. Deshalb lässt sich alles dort speichern und auch die Kommunikation zwischen den Beteiligten findet auf diesem Weg statt. Die Anwendung ist darauf ausgelegt, dass sich das E-Learning kollaborativ sowie unter Anleitung von Lehrenden, die eigene Aufgaben definieren können, vollzieht. 

 

Auch wenn die Verantwortlichen den Lehrenden einen elfseitigen Leitfaden mit pädagogischen Hinweisen zum Umgang mit den Quellen im Unterricht auf den Weg geben, IWitness ist für alle Beteiligten eine Herausforderung in Sachen Medienkompetenz. Allerdings erlaubt die Anwendung eine Reflexion der gängigen Praxis von aus Zeitzeugen-Aussagen kompilierten Medien-Angeboten, die zur dokumentarischen Blaupause geworden sind: Im Cut & Paste-Modus lassen sich zwar ansehnliche Ergebnisse erzielen, der Eigensinn der Artikulation geht dabei jedoch häufig verloren. Interessant ist daher vor allem, unter welchen Gesichtspunkten Sequenzen ausgewählt werden: Um zu schockieren, um Aufmerksamkeit zu erzeugen oder um ein gängiges Geschichtsbild zu untermauern? Die eigentlichen Lerneffekte von IWitness sind im Bereich einer durch Do-It-Yourself-Erfahrungen fundierten Medienkritik zu vermuten. Darüber hinaus erlaubt das Angebot einen Ausblick in eine Zukunft, die nicht Science Fiction ist: Welche Konsequenzen mag es wohl haben, wenn künftige Generationen mit digitalen Archiven nicht mehr über konventionelle Interfaces interagieren, sondern sie auf Spracheingabe und semantische Suche mit der Wiedergabe audio-visueller Sequenzen aus Zeitzeugeninterviews reagieren? 

 

Foto: Flickr/thomasklaiber