In zehn Jahren befindet sich das Schulsystem inmitten des digitalen Klimawandels, so Martin Lindner. Der Bildungsvisionär, Partner bei wissmuth.de, schreibt als Spezialist für “Weblernen” und “Enterprise 2.0”. In diesem Beitrag entwirft Martin Lindner, ehemals Literatur- und Medienwissenschaftler, ein Bild der Schule in der Zukunft, führt auf, welche medialen und digitalen Tools den Unterricht bereichern können und wie unvermeidlich ihr Einzug in die Klassenzimmer ist.

 

Eigentlich wurde die Gutenberg-Galaxis ja schon vor 50 Jahren für beendet erklärt, als das Fernsehen Leitmedium wurde. Das elektronische Zeitalter sei angebrochen, sagte damals der Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan. Information im Überfluss: Das Fernsehen und die elektronisch angetriebenen Print-Magazine liefern Bilder und “sekundäre Mündlichkeit”, der Computer ist für das Wissen zuständig. Gleichzeitigkeit an Stelle von streng geregelten Prozessketten. Ende der Knappheit, Öffnung des Spielfelds, Verlust der Privilegien.

 

Ein Abgrund öffne sich zwischen der zurückgebliebenen Welt der Klassenzimmer und der neuen Welt der elektronischen Medien zuhause. Das schrieb McLuhan im Jahr 1967. [1] Tatsächlich änderte sich an den Schulen aber gar nicht viel. Bis heute blieb es im Prinzip bei dem System, das sich Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit der industriell-bürokratischen Organisation herauskristallisiert hatte.

 

Ich selbst bin von 1966 bis 1978 zur Schule gegangen. Der heutige Unterricht meiner Tochter auf einem renommierten bayerischen Gymnasium gleicht bis ins Detail meiner damaligen Schulzeit. Als hätte man die Zeit eingefroren. Nur die neue Latein-Mode und Abiturfeiern mit Tanzkurs und Abendkleid hätten wir seltsam gefunden. Eine Medienrevolution gab es damals höchstens draußen in der Popkultur. In der Schule stellte man mit ebenso teuren wie erfolglosen “Sprachlaboren” das Klassenzimmer um 1900 nach, nur noch rigider: jede Schülerin und jeder Schüler abgekapselt, mit Mikrofon, Kopfhörer und zentralem Schaltpult für die einzelnen Kanäle. Die bis heute revolutionärsten neuen Schulmedien stammen auch aus den 1970er Jahren: Overhead-Projektor und Fotokopierer. Und auf der Seite der Schüler? Am ehesten der Tintenkiller.

 

Trotzdem hatte McLuhan Recht. Medien- und Kulturrevolutionen brauchen ihre Zeit. Es dauerte immerhin 50 Jahre, bis die Medienrevolution wirklich das Wissensreservoir unserer Gesellschaft erreichte. Denn das Medium des Wissens ist ja immer noch Text: fixierte Zeichen, die sich von den Urhebern und von der sinnlichen Wirklichkeit abgelöst haben und eine abstrakte Welt für sich bilden. Früher konnten das nur alphabetische Texte, aber inzwischen bekommen auch audiovisuelle Medien Textcharakter: Man kann sie in kleine Sequenzen zerlegen, beliebig ansteuern, wiederholen und kopieren. YouTube-Videos betrachtet man nicht mehr wie einen kleinen Kino-Film: Diese digitalen Bild-Sequenzen werden eher aktiv “gelesen” als passiv rezipiert.

 

Am wichtigsten ist aber trotzdem die Schrift. Wir leben in einem neuen Schrift-Zeitalter. Durch Bildschirme, Echtzeit-Übermittlung, Hyperlinks und Algorithmen hat sie einen völlig neuen Aggregatzustand erreicht. Trotz Multimedia besteht das Internet heute immer noch in erster Linie aus Schrift. Interessanterweise kann man schon seit 1960 verfolgen, dass auch die „Schrift-auf-Papier“ immer schneller und flüchtiger wurde: Offsetdruck, Fotodruck, Kopien, elektronische Manuskripte, elektronischer Satz. Aber der eigentliche Einschnitt kam dann erst durch zwei Medien-Revolutionen: (a) den PC-Bildschirm, der einen magischen Seite, auf der jeder Textausschnitt sofort erscheinen kann; (b) das World Wide Web, insbesondere seit es durch Blogs, Wikis und Social Media zum “Read/Write Web” wurde.

 

Seitdem kann jede und jeder Texte finden, kopieren, bearbeiten, schreiben, verbreiten, teilen und kommentieren, jetzt und sofort. Das Internet wurde zur “Cloud”: eine digitale Wissenswolke, die alle großen, starren Textblöcke schreddert und verflüssigt. Dieses Schrift-Universum besteht nicht mehr aus Büchern, sondern aus Paragraphen.

 

 

Digitaler Klimawandel: Lernen in der Wolke

 

Nach der Gutenberg-Galaxis kam die Google-Galaxis. Das Netz ist jetzt kein “Speicher” mehr, keine Bücherei, kein Archiv und keine “Datenbank”, aus der dann “Wissensstoff” in große Container verpackt und über “Datenautobahnen” ausgeliefert wird. Wir stehen mitten in einem digitalen Klimawandel. Das neue, soziale Internet, das gerade entsteht und sich rasend schnell entwickelt, ist eher so etwas wie ein riesenhafter Wasserkreislauf: Winzige Wissens- und Informationspartikel (“microcontent”) ballen sich zur “Cloud”. Das “Cloud Computing” verlagert alle Daten aus der vereinzelten Festplatte in das Netz, auf das potenziell alle zugreifen können. 

 

Aus der digitalen Wissenswolke regnen dann Info-Tropfen, jeder so klein wie eine Aufmerksamkeitsspanne, wie ein Blick auf einen Bildschirm. (“Drop.io” hieß ein populärer Cloud-Speicherservice.) Diese Tropfen vereinen sich zu Rinnsalen (“flows”), die Rinnsale zu Strömen (“streams”), die sich sammeln in Tümpeln und Seen (“pools”). Ein Buch ist in der Google-Ära eher so etwas wie eine vorübergehende Sammlung von flüssigem Wissensstoff. Und weil der globale Informationskreislauf sich immer mehr erhitzt, verdunsten und verdampfen diese Pools viel schneller als früher: Die Luft ist gesättigt mit winzigen Wissens- und Informationspartikeln, die sich zur Cloud ballen, und so weiter. [2]

 

Wissen, das nicht ständig im Umlauf ist, ist jetzt schon vergessen. Tatsächlich war das früher gar nicht sehr viel anders: Alle Erwachsenen berichten ja, dass sie sich an den “Schulstoff” fast nicht mehr erinnern können. Lernen bedeutete noch nie “Speichern”. Wissen war schon immer mehr Prozess als “Stoff”: eine Kettenreaktion. Man eignet sich Material an, das einen weiterbringt. Nur solange dieser Prozess relativ langsam verlief, konnte man sich einreden, Wissen sei so etwas wie ein gesicherter “Schatz”, den man in 15 Jahren anspart, um dann als Erwachsene oder Erwachsener das berufliche Leben darauf zu gründen. Das ist vorbei: Alle spüren jetzt die Dynamik des Wissensprozesses.

 

“Die Welt ist flach” ist ein Buch des „New York Times“-Autors Tom Friedman über die Auswirkungen der Globalisierung und des Internet. Gemeint ist: Das ökonomische Spielfeld ist eingeebnet, es gibt keine dauerhaft privilegierten Nischen mehr. Positiv ausgedrückt: Alle können mitspielen. Das gilt global, aber auch regional und sozial: Ein Schulabbrecher in einem Dorf im Bayerischen Wald kann sich selbst zum Web-Programmierer auf Weltniveau weiterbilden, der täglich mit den Besten seines Faches in Kontakt steht. Eine kleine Spezialfabrik, die die neuesten Technologien verwendet und den bürokratischen Apparat einspart, kann ihre Produkte in ganz Europa vertreiben. Und so weiter.

 

Friedman stellt eine Sekretärin und alleinerziehende Mutter vor, die es schaffte, immer dann in ein neues berufliches Feld zu springen, wenn ihr alter Job wegrationalisiert wurde. Ihre Erfahrungen verallgemeinert er zur Maxime für “lebenslange LernerInnen”. Frei übersetzt: ‚Sei immer Expert bzw. Expertin für drei Felder, und sei dir zugleich klar, dass sich diese drei Felder ständig ändern. Das erste Feld ist das, was jetzt gerade dein Brot-und-Butter-Geschäft ist. Dazu musst du immer ein zweites Kompetenzfeld entwickeln, das mit dem ersten verwandt ist, so dass du leicht wechseln kannst, wenn es nötig wird. Und dann sollte es noch ein drittes Feld geben: Etwas ganz anderes, ein entfernteres Ziel, dass du bereits jetzt ansteuerst.’ Das ist die extrem anstrengende Lebensperspektive, auf die alle Lernenden, von der Hauptschule bis zur Universität, vorbereitet und unterstützt werden müssen. [3]

 

 

Drei große Treiber des Umbruchs: Geld, Zeugnisse, Technologie

 

Wie wird sich also die Schule 2022 geändert haben? Nicht viel, ist man geneigt zu sagen. Wie sollte sie auch? Das Geld reicht ja noch nicht einmal, um Schuldächer abzudichten und Stundenausfall zu verhindern. Und wer sollte das tun? Wille und Ideen für die nötige Grundsatzreform der Institution Schule sind fast noch knapper. Alle Beteiligten, die sich etwas davon versprechen, halten fest am Status Quo. Aber es gibt drei mächtige Entwicklungen, die vielleicht doch grundlegende Änderungen erzwingen:

 

(1) Die Dauerkrise. Es wird noch viel weniger Geld geben. So schmerzhaft wenig, dass daraus Veränderungsdruck entsteht.

 

Schon jetzt reicht es ja nicht einmal dazu, die Schuldächer zu dichten, das Mobiliar zu erneuern und Stundenausfall zu verhindern. Das alles wird noch viel dramatischer werden. Dazu werden wir Lösungen für verödende Schulen in ländlichen Regionen finden müssen. Schülerinnen und Schüler müssen immer weitere Wege fahren müssen, während Breitbandzugänge für alle geschaffen werden. Das spricht dafür, das Verhältnis von teuren Präsenzphasen und kollaborativem „Lernen-im-Netz“ neu zu denken. Wir werden also ganz neue Formen von “Blended Learning” entwickeln.

 

(2) In der “flachen Welt” werden Abschlusszeugnisse immer wertloser. Lernen auf eigene Faust wird deshalb immer wichtiger.

 

Während Schülerinnen und Schüler sowie Studentinnen und Studenten wertvolle Lebenszeit mit dem sinnlosen Büffeln von Stoff für Multiple-Choice-Prüfungen verschwenden, verändert sich die Welt draußen rasend schnell: Die Berufe, in denen sie arbeiten werden, kennen wir noch gar nicht. Sehr viele werden in “Projekten” arbeiten und keine Lebenszeit-Arbeitsplätze in großen Beton und Glas Gebäuden mehr haben. Diese Art von flexibler Arbeit bekommt man aber nicht, weil man ein gutes Zeugnis vorweist. Das Problem ist, dass man es sich künftig nicht mehr leisten kann, bis zu 15 Jahren Lebenszeit und Lebensenergie in einem seltsam abgeschotteten System zu verschwenden. In derselben Zeit könnte man ja an der laufenden Entwicklung im Netz und mit dem Netz aktiv teilnehmen, dabei unendlich viel Neues lernen und wirklich Substanzielles tun. Wenn aber die Schule für die neue Welt nicht ausbildet, in die sie dann geworfen werden, müssen es die Schülerinnen und Schüler auf eigene Faust versuchen. Die einzige Möglichkeit dafür bietet wieder das Netz. Wir werden virtuelle Selbstlerner-Teams haben, die sich ähnliche Regeln geben wie Gruppen der Anonymen Alkoholiker und gemeinsame Projekte selbst organisieren wie die Gilden im Online-Rollenspiel “World of Warcraft” oder Software-Entwickler mit dem Projekt- und Teammanagement-Tool “Basecamp”.

 

(3) Die digitale Medienrevolution wird in jeden Winkel des schulischen Alltags eindringen.

 

Bis jetzt ist das ja beschränkt auf schnelles Spicken mit dem iPhone und Hausarbeiten mit Wikipedia-Bausteinen. Die nötigen Technologien spielen nur deshalb noch keine wichtige Rolle, weil sie gerade jetzt erst reif für die Praxis geworden sind: das Tablet (z.B. iPad), der digitale Stift (z.B. LiveScribe), der eBook-Reader (z.B. Kindle), der iPod (das iPhone minus der Telefon-Funktion, für Text-Kommunikation in Echtzeit, Fotos und Videoaufnahmen). Zusammen kosten diese Geräte derzeit ca. 800 Euro, also derzeit (!) vielleicht 400 Euro pro Jahr und Schüler. Dafür braucht man keine Bücher mehr, keine Hefte, keine Fotokopien. Sobald diese Technologien tatsächlich benutzt werden, wird das den Schulalltag revolutionieren.

 

 

‚User-centered Design’: Lernende werden das Zentrum der Schulwelt

 

Im alten, bürgerlichen Wissensraum brauchte man viele Zugangsberechtigungen: Zeugnis, Studentenausweis, Bibliotheksausweis. In dieser Gesellschaft gab es beliebig viel Nachwuchs und nur wenige Plätze für Wissensarbeiter und -arbeiterinnen. Dementsprechend wurde gefiltert und geprüft. Mittelpunkt dieser Welt waren die, die den Zugang zum Wissen bewachten. Man musste anklopfen, sich bewerben, sich unterordnen, Prüfungen bestehen, dann wurde man – vielleicht – aufgenommen in den Kreis der Privilegierten. (Tatsächlich wurde das zeitweise, etwa während des Booms zwischen 1955 und 1975, nicht so schmerzhaft empfunden, weil so viele Leute gebraucht wurden, dass in gerade neu entstehenden Arbeitsfeldern und Wissensgebieten die Noten oft nicht so wichtig waren.)

 

Das Internet erzeugt nun aber einen flachen Wissensraum, der völlig anders aufgebaut ist als bisher: user-centered. Im Zentrum steht das Individuum, das auf die Google-Seite blickt. Sie ist weiß und leer und wartet auf die Eingabe. Ein Suchbegriff, und sofort ist man mitten in einer Wolke von zigtausend Wissenspartikeln. Und zwar in Echtzeit: Wenn die führende Expertin der Welt dazu jetzt gerade eine Twitter-Notiz veröffentlicht hat, sehe ich sie sofort. Für mich, der vorher 20 Jahre als Literaturwissenschaftler an Universitäten verbracht hat, ist das immer noch unfassbar.

 

Bis jetzt wurde die Schule gegen diese Revolution abgeschottet, aber die Technologie wird sich nicht mehr draußen halten lassen. Was aber passiert, wenn die Schülerschaft bis spätestens 2022 auf dem Stand der Technik ist? Wenn sie vier neue digitale Werkzeuge in der Hand hat, die ihr den Zugriff auf ganz neue Wissensbestände und Praktiken geben?

 

 

Benutz die Tools, dein Kopf wird folgen (und das Curriculum auch)

 

(1) Die digitale Arbeitsoberfläche

 

Das Tablet (z.B. iPad) ist das Werkzeug für laufende Arbeit mit Text-Bild-Material und AV-Medien. In der Lerngruppe, in Arbeitsräumen oder zu Hause. Der Touchscreen ist ideal für schnelle Bearbeitung: Lesen und Erstellen von Materialien, Annotation, Sammlung und Verschlagwortung, Bearbeitung und Remix, Notizen, Austausch in der Gruppe über das Netz. Im Unterschied zum herkömmlichen PC steht nicht die QWERTZ-Tastatur im Zentrum, aber zu Hause kann man, wenn längere Texte zu schreiben sind, eine Tastatur anschließen und das Tablet in einer Halterung als Bildschirm benutzen. Das Tablet ersetzt herkömmliche Arbeitsbücher und fotokopiert Arbeitsmaterialien, aber auch den Beamer, das große Whiteboard und die Tafel.

 

(2) Der digitale Stift

 

Schreiben wird in der neuen Medienwelt nicht weniger wichtig werden, im Gegenteil. Die gegenwärtige Krise des Schreibens hat viel mit dem medialen Durcheinander zu tun: Schüler und Schülerinnen schreiben noch in Hefte, weil sie müssen, aber fast nicht mehr aus eigenem Antrieb. Die Welt der Handschrift und die digitale Netzwelt sind schroff getrennt. Schnelle, quasi-mündliche Notizen werden via SMS bzw. Chat und Microblog ausgetauscht. Hier stellen die neuen digitalen Stifte eine noch kaum begriffene Revolution dar: Man schreibt mit der Hand in spezielle Hefte, die in einer Art Videoclip die Spur des Stiftes aufnehmen (das Schriftbild am Ende ebenso wie seine Entstehung). Gleichzeitig verfügt der sog. LiveScribe-Stift über eine Tonaufnahmefunktion: Man kann alles aufnehmen, was gesprochen wird, während man schreibt. Und man kann hinterher auf Notizen im Heft deuten und hört dann den Ton, der zu dieser Stelle gehört. Die so entstehenden Clips kann man auf das Tablet laden, bearbeiten, für sich selbst sammeln oder auch untereinander austauschen. Ein Handschriftenerkennungsprogramm kann die Notizen in Bildschirmschrift umwandeln. Die Möglichkeiten, die das bietet, sind noch völlig unausgeschöpft. Sobald alle Schülerinnen und Schüler dieses Gerät für derzeit ca. 100 € haben, werden sich ganz neue Arbeitsformen und eine neue digitale Schriftkultur herausbilden.

 

(3) Das digitale Buch

 

Gedruckte Schulbücher wird man nicht mehr benötigen. Entsprechende Texte sind nun digitalisiert und stehen doppelt zur Verfügung: zur aktiven Bearbeitung von einzelnen Abschnitten (auf dem Tablet) und zum Lesen/Studieren im Zusammenhang. Für die derzeitige Krise des Lesens längerer Texte gilt Ähnliches wie für das Schreiben mit der Hand: Es ist eine Medienlücke. Das digitale Schriftuniversum im Netz hat auch für einen Ex-Literaturwissenschaftler wie mich die Wirkung, dass ich nur noch dann Papierbücher lese, wenn sie mir sehr wichtig sind und wenn ich sie mit Anstreichungen direkt bearbeiten will. (Für die Schule war und ist das aber ohnehin keine wichtige Praxis.)

 

Die wichtigsten Texte für den laufenden Bedarf stehen schon heute im Netz. Das Problem ist, dass man sich diese Texte kaum mehr ausdruckt, der PC-Bildschirm (und übrigens auch das Tablet!) für das länger dauernde konzentrierte Lesen aber nicht ideal sind. Die Lösung ist die neue Generation von eBook-Lesegeräten wie dem Amazon Kindle: Sie sind leicht, verbrauchen kaum Strom und stellen abstrakten, “puren” Text und Grafik dar, ohne Multimedia-Schnickschnack (der auf das Tablet gehört). Besonders wichtig: Sie lassen sich mit einem Klick aus dem Netz heraus befüllen. Wenn man einen längeren Blog-Artikel konzentriert lesen möchte, den man im hastigen Netz nur überfliegen und querlesen kann, drückt man auf einen Knopf im Browser und eine Minute später ist der Text via Wi-Fi  perfekt formatiert auf dem Lesegerät verfügbar.

 

Auf diese Weise lassen sich dann auch sehr leicht OER-Materialien erstellen. OER sind “Open Educational Resources” etwa in der Form von “Wikibooks” oder auch Blog-Büchern (z.B. via Pressbooks.com). Lehrer und Lehrerinnen oder Experten und Expertinnen können Schulbücher gemeinsam schreiben und sie dann übergangslos über das Netz zum Download anbieten. [4] Sogar von Schüler und Schülerinnen auf den Tablets erarbeitete Materialien können so direkt in “offizielle” und geprüfte Lehrmaterialien umgewandelt werden. Und umgekehrt: Das eingefrorene Wissen aus den Büchern kann auf eBooks in Form von digitalen Schnipseln ausgekoppelt, annotiert und geteilt werden (“Social Reading”). Damit ist der Kreislauf vollkommen: Am Anfang und am Ende stehen die einzelnen Lernenden.

 

(4) Das mobile Kommunikationsgerät

 

Der Siegeszug der mobilen Geräte in der Art des iPhone ist schon jetzt nicht aufzuhalten. Sie künstlich aus der Schule auszuschließen, ist absurd. Sie werden benutzt für schnelle Kommunikation im Netzwerk (in der Art von Twitter), für schnelle Suchen im Netz (Google, Wikipedia, …), für das Aufnehmen und Annotieren von Bildern und von Audio-/Video-Clips (z.B. Interviews, kurze Tutorials, …). Zu überlegen wäre, ob man nicht Schulgeräte ohne Telefonfunktion wie den iPod Touch ausgibt: Die schnelle telefonische Sprachkommunikation wird ins Privatleben, auf Privatgeräte verbannt. In der Schule (wie in jeder Art von Wissensarbeit im Team) sollte man die schnelle Echtzeit-Kommunikation in Textform abwickeln und mündliche Sprache den Live-Situationen vorbehalten. (Skype-Videotelefonate z.B. mit externen Experten oder als virtuelle Konferenzen würde man mit dem Tablet abwickeln.)

 

(5) Die Software im Hintergrund

 

Wenn diese digitalen Werkzeuge den Schulalltag “von unten” umgestaltet haben, wird im Hintergrund kein x-fach abgesicherter “elektronischer Klassenraum” mehr stehen (Moodle o.ä.). Es wird “Persönliche Lern-Ökosysteme” (“Personal Learning Environments”) geben, die auf einfacher und persönlicher Web-Standardtechnologie (Wikis, Blogs) basieren. Die einzelnen Bausteine (“microcontent”) müssen über die Grenzen von Plattformen und Software hinweg austauschbar sein, wie es jetzt schon im Web 2.0 tendenziell der Fall ist. Die Schule kann als “Host” solche persönlichen Räume vorübergehend beherbergen, aber sie gehören der Schülerschaft. Wer die Schule wechselt, nimmt eigene Inhalte und Wissen einfach mit.

 

Es ist klar, dass die vielen digitalen Informations- und Wissensobjekte in der “Cloud” in mehreren Räumen zugleich gespeichert werden:

(a) in einem persönlichen Lern- und Wissensraum (der ungefähr einem Papier-Arbeitszimmer entspricht, mit allen “Zetteln” und “Schubladen”);

(b) mit ausdrücklicher Zustimmung des Schülers und der Schülerin im Arbeitsraum der Lerngruppe, sei es einer kleineren Arbeitsgruppe (5 – 7 Leute) oder einem “Kurs” oder “Klasse” als übergeordneter Gruppe (bis zu 20 – 24 Leute).

(c) Der Übergang zwischen selbsterstellten Lernmaterialien und Lehrmaterialien wäre fließend: Gemeinsam ausgearbeitete “Lernobjekte” (ein Tutorial, ein Schaubild, ein virtuelles “Arbeitspapier” mit 1 – 3 Seiten) könnten in eine Art deutschsprachiges Schul-Wiki geladen werden, das alle Materialien erschließt und verlinkt, die von Lehrern und Lehrerinnen, externen Autoren und Autorinnen (auch als “Verlage”) und den Schülern und Schülerinnen selbst ausgearbeitet wurden und die eine besondere Stelle im umfassenden Wissensnetz ausfüllen.

 

Schüler und Schülerinnen können eigene Lernmaterialien in “Portfolios” sammeln, die sie vorzeigen, wenn sie irgendwo Qualifikationen nachweisen sollen. Auch Materialien, die im überpersönlichen Raum “veröffentlicht” wurden, können bewertet werden: von anderen Lernenden, von Lehrerinnen  und Lehrern und/oder von Expertenkommissionen, die damit die besondere Qualität von Materialien und die besondere Relevanz von einzelnen Inhalten bestätigen können. Das universelle Schul-Wiki ist dann zugleich Grundlage für alle Curricula und die Vorstufe zu “Schulbüchern”: Die sind einfach nur besondere Kollektionen aus solchen Materialien, die in eine zusammenhängende Form gebracht wurden, um dann auf Tablets (Arbeitsbücher) und eBook-Lesegeräten (Textbücher) benutzt zu werden.

 

 

Hacking Education: Die Bildung hacken [5]

 

Keine Kommissionen des Kultusministeriums werden die Schule verändern, keine Reformschulen (die meilenweit weg sind von der Mainstream-Wirklichkeit), und auch keine noch so engagierten guten Lehrenden (die es immer schon gab). Medien und Technologien werden Lern- und Wissensprozesse einfach dadurch umpolen, dass man sie benutzt. Jedes Gerät, sogar jede Software hat andere Wirkungen auf die Nutzerinnen und Nutzer: Digitales Schreiben fühlt sich z.B. ganz verschieden an, wenn man es mit Microsoft Word, mit Google Docs, mit WordPress oder mit Etherpads macht.

 

Der Einsatz der oben beschriebenen (oder ähnlichen) Basistechnologien ist so unvermeidlich wie früher der Einsatz des Photokopierers und des Büro-PC. Diese Medien lassen sich auch in den alten Schulburgen der Jahrhundertwende ebenso einsetzen wie in den vergammelten Glas-Schachteln der 1970er Jahre. Natürlich wäre es gut, wenn man die Schulgebäude und die Innenarchitektur diesem neuen, offenen Teamarbeit-Stil anpassen würde, aber realistischer Weise werden wir mit dem auskommen müssen, was wir haben. Die Schule 2022 wird von außen so aussehen wie heute. Aber im Inneren werden die neuen Technologien sie umfunktioniert haben.

 

 

Anmerkungen

 

[1] Marshall McLuhan [1967], The Medium Is the Massage. Gingko Press, Corte Madera, CA 2001. S. 18.

[2] Martin Lindner (2008), Microlearning. In: Ulrike Reinhard (Hg.), Geschichten über die Zukunft des Lernens 02 – Web Meets HR. Selbstverlag / Online, 2008. S. 36 – 43. Online unter

http://www.slideshare.net/jurijmlotman/lindnermikrolernenscope2008

[3] Thomas L. Friedman, The World Is Flat: The Globalized World in the Twenty-first Century. New [3rd] edition, revised, expanded and updated. London (Penguin), 2007. Meine Übersetzung. Die deutsche Ausgabe, Die Welt ist flach (Suhrkamp 2006) bezieht sich auf die 2. Auflage.

[4] Thorsten Larbig, #OER – Offene Bildungsmedien: Ich will Taten sehen! Blogeintrag im Blog “herrlarbig”, 8. 11. 2011. http://herrlarbig.de/2011/11/08/oeroffenebildungsmedienichwilltatensehenupdatezuschultrojaner/#more-29215

[5] Martin Lindner, Die Bildung hacken. Blogpost im Blog “wwweblernen”, 24.3.2009. Dort auch weiterführende Links. http://wwweblernen.de/?p=174

 

 

 

Foto: flickr/mexican 2000