Der Rechtsextremismus ist eine zentrale Herausforderung für unsere Demokratie. In den letzten Jahren hat er neue Formen angenommen, wobei das World Wide Web, insbesondere das Web 2.0, eine wichtige Rolle spielen. Im folgenden, dreiteiligen Beitrag stellt Michael Görtler, Sozialwissenschaftler und Referent für politische Jugend- und  Erwachsenenbildung, Überlegungen zu der Gefahr des “Rechtsextremismus 2.0” und ihrer Relevanz für die politische Bildung an. Der erste Teil führte in das Thema ein und zeigt neue Erscheinungsformen des Rechtsextremismus auf, der vorliegende, zweite Teil beschäftigt sich mit den Ursachen und der noch folgende, dritte Teil fragt schließlich nach den Konsequenzen für die politische Bildungsarbeit. 

 

Zu Teil 1

 

Von Michael Görtler

 

Die Frage, warum Jugendliche rechtsextreme Einstellungen und Verhaltensweisen an den Tag legen, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Für rechtsextremes Denken, Fühlen und Handeln gibt es unterschiedliche soziologische und psychologische Erklärungsansätze, die auf individuelle wie kollektive, sozioökonomische sowie psychosoziale Faktoren hinweisen. Es handelt sich also um ein komplexes Phänomen, und es lässt sich daraus schließen, dass es nicht die eine Erklärung für rechtsextreme Einstellungen und rechtsextreme Verhaltensweisen gibt, sondern ein Wechselspiel aus den genannten Faktoren dafür verantwortlich gemacht werden kann. 

 

Bei der Herausbildung von Einstellungen und Verhaltensweisen spielt die politische Sozialisation eine zentrale Rolle (vgl. im Folgenden Rippl 2008). Im lebenslangen Prozess der politischen Sozialisation internalisieren die Jugendlichen die Werte und Normen, die ihr Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Dabei entwickeln sie aber auch Vorstellungen von sich und der Welt sowie Einstellungen, z.B. zur Demokratie oder zu Ausländern, die sich in ihren Ansichten und Meinungen widerspiegeln. Für die politischen Sozialisation sind die “Sozialisationsagenturen” und “Sozialisationsagenten”, d.h. die Orte bzw. Personen, die auf die “Sozialisantin” und den “Sozialisanten”, d.h. die oder der Jugendliche einwirken, richtungsweisend. Dazu zählen etwa Elternhaus, Kindergarten, Schule oder Arbeitsplatz sowie Familie, Freunde, Schul- und Arbeitskollegen, aber auch die Medien. Während der politischen Sozialisation besteht nun die Gefahr, dass einer oder mehrere dieser Faktoren eine Orientierung in Richtung rechtsextremer Einstellungen und Verhaltensweise bewirken. Dabei lassen sich die beispielsweise die folgenden Erklärungsansätze heranziehen (vgl. im Folgenden Stöss 2010: 47-55). 

 

Zunächst spielt das Fehlen von Kenntnissen und Erfahrungen mit Ausländerinnen und Ausländern eine wesentliche Rolle. Nicht selten haben ausländerfeindliche Jugendliche falsche Vorstellungen von fremden Kulturen, Werten, Normen oder Verhaltensweisen. Zudem sind sie selten oder nie mit Personen anderer Kulturen in Kontakt getreten bzw. haben sich nicht ernsthaft mit ihnen auseinandergesetzt. Daraus resultiert das Problem, dass falsche Vorstellungen nicht reflektiert und damit nicht korrigiert werden. 

 

Ein weiterer Aspekt bezieht sich auf die soziale Anerkennung der Jugendlichen in der rechten Szene bzw. ihrer Gruppe. In der Jugendphase sind Menschen sensibel für Einflüsse von außen, z.B. die Reaktionen ihrer Klasse, Freundinnen, Freuden oder Bekannten auf ihren Kleidungsstil, ihr Aussehen, ihren Charakter, ihren Vorlieben usw. Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung kann dabei so groß werden, dass mit dem Ziel der Zugehörigkeit zur Gruppe moralische Bedenken über Bord geworfen werden und es in Kauf genommen wird mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, z.B. aufgrund von Gewalttaten, Hakenkreuzschmierereien oder dem Tragen von rechtsextremer Symbolik an der Kleidung. In diesem Rahmen spielt dann auch der Gruppenzwang eine nicht unwesentliche Rolle, weil innerhalb der Gruppe Druck auf den Einzelnen ausgeübt wird, um ihn zum Mitmachen zu bewegen. 

 

Ein anderer Ansatz bezieht sich auf die “Individualisierungshypothese” (vgl. Schimank 2012). Diese besagt im Groben, dass die Erosion von Werten und Normen aufgrund des sozialen Wandels der Gesellschaft die Welt für Jugendliche immer unberechenbarer macht. Es fehlen demzufolge traditionelle Orientierungsmarken. Das zeigt sich etwa in der rückgängigen Bedeutung der Konfessionen, aber auch die Veränderung der Lebensumstände, z.B. durch Mobilität und Flexibilität in der Arbeitswelt, ansteigende Scheidungs- oder abfallenden Fertilitätsraten. Angesichts dieser Unberechenbarkeit suchen Jugendliche Zuflucht bei Gruppen, die ihnen Halt geben. Der Individualismus der Jugendlichen wird beispielsweise in den “Milieuorientierungen” (oder vgl. etwa die Sinus-Studie, BDKJ 2007) sichtbar, die auf die Existenz von unterschiedlichen Milieus in Bezug auf deren Werteorientierung, Verhaltensweisen oder Haltung zu Familie, Karriere und Freizeit – und nicht zuletzt der politischen Richtung – hinweisen. 

 

Darüber hinaus spielt natürlich der soziale wie ökonomische Status eine wichtige Rolle. Das Sozioökonomische Standardmodell, das aus der Wahlforschung stammt, fasst Beruf, Bildungsniveau und Einkommen als Indikatoren für politische Interesse und politische Beteiligung auf. Dabei zeigt sich, dass Menschen, die in allen drei Bereichen hohe Werte ausweisen, sich nicht nur mehr mit Politik auseinander setzen, sondern auch mit ihrer Lebenssituation zufriedener sind. Rechtsextreme Einstellungen und Verhaltensweisen finden sich dagegen im Durchschnitt häufiger bei Menschen, die erwerbslos sind oder über ein geringes Einkommen verfügen sowie ein niedriges Bildungsniveau haben – besonders in strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland scheint eine neue Generation von jungen Rechtsextremen heranzuwachsen (vgl. Decker et al. 2012). 

 

In Bezug auf die Unzufriedenheit über den sozialen und ökonomischen Status, der sich z.B. im sozialen Status oder den Karrierechancen widerspiegelt, geraten die sogenannten “Modernisierungsverlierer” ins Blickfeld (vgl. Spier 2010). Sie fühlen sich von äußeren Einflüssen wie z.B. der Zuwanderung bedroht – das Stichwort heißt hier: Überfremdung. Rechtsextremismus ist in solchen Fällen nicht selten ein Schutzmechanismus sowie ein Ventil, um die negativen Gefühle zu kompensieren. Nicht selten greifen rechtspopulistische Parteien diese Ängste auf und malen Katastrophenszenarien aus, um Wähler zu gewinnen. Daher sollen zuletzt auch die ausländerfeindliche Stimmungen in Bevölkerung wie Politik nicht unerwähnt bleiben. Die Frage der Zuwanderung – siehe etwa die sog. Sarrazin-Debatte, in der in Öffentlichkeit und Politik über Erfolg und Scheitern der Integration von Ausländern in der deutschen Gesellschaft diskutiert wurde – ist längst zu einer Kontroverse geworden, die von Parteien aufgegriffen wird. Nationalistische wie konservative Meinungen und Ansichten werden dabei nicht selten populistisch instrumentalisiert. Das hat auf der einen Seite den positiven Effekt, dass die demokratische Öffentlichkeit wächst, kann aber auch bedeuten, dass antidemokratische Stimmungen salonfähig werden bzw. ein Gewöhnungseffekt eintritt und die Toleranzgrenze steigt. 

 

Zusammenfassend zeigt sich, dass der Rechtsextremismus als komplexes Phänomen eine ganze Reihe von Ursachen haben kann. Aus diesem Grund variiert die Aussagekraft der Erklärungsansätze von Fall zu Fall, weil bei allen  Jugendlichen sowie Schülerinnen und Schülern individuelle Beweggründe vorliegen. Nicht wenige der angesprochenen Faktoren sind aber der politischen Bildung zugänglich, wie z.B. der Abbau von Unwissen, das Herstellen von Kontakten, das Entkräften von Vorurteilen, Stereotypen und Klischees. Allerdings darf auch nicht vergessen, dass es angesichts der sozialen und ökonomischen Situation vieler Jugendlichen in strukturschwachen Regionen mit hoher Erwerbslosenrate – und in denen sich die jungen Menschen wirklich auf sich selbst zurückgeworfen fühlen – schwierig ist, dem Rechtsextremismus entgegen zu wirken. 

 

Um den Bogen zurück zum Web 2.0 zu schlagen, muss darauf hingewiesen werden, dass den Neuen Medien ein großer Stellenwert in Bezug auf den Transport von ausländerfeindlichen Stimmungen, der Verbreitung von rechtsextremen Meinungen und Ansichten, aber auch der Vernetzung der Individuen zukommt. Vor allem die sozialen Netzwerke, aber auch Audio- und Videoportale schaffen einen rechtsextremen Raum, aber auch eine Plattform für die Verbreitung des ausländerfeindlichen Gedankenguts sowie zur Kanalisierung von Unzufriedenheit. Dieser Raum entzieht sich eines Zugriffs seitens der staatlichen Behörden, aber auch der Eltern, denn die Schnelligkeit der Kommunikation in der digitalisierten Welt macht eine Überwachung schwierig. Daher spielt neben der Verbesserung der Kontrolle der Einstellung von rechtsextremen Inhalten auch die Aufklärung der Erziehungsberechtigen eine wichtige Rolle, um dieser Herausforderung für die Demokratie wirksam zu begegnen. 

 

Literatur:

Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2012): Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, hrsgg. von Ralf Melzer, Forum Berlin, Bonn: FES, online unter: http://www.fes-gegen-rechtsextremismus.de/pdf_12/mitte-im-umbruch_www.pdf (Stand September 2013). 

 

Rippl, Susanne (2008): Politische Sozialisation. In: Hurrelmann, Klaus u.a. (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung. 7. Auflage, Weinheim und Basel, S. 443-458.

 

Schimank, Uwe (2012): Individualisierung der Lebensführung, Dossier Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Bonn: bpb, online unter: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/137995/individualisierung-der-lebensfuehrung?p=all (Stand September 2013). 

 

Spier, Tim (2010): Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa, Wiesbaden: VS. 

 

Stöss, Richard (2010): Rechtsextremismus im Wandel, hrsgg. Von Nora Langenbacher, Forum Berlin, Bonn: FES, online unter: http://library.fes.de/pdf-files/do/08223.pdf (Stand September 2013).

 

Foto: Flickr.com / Blai Server / CC BY-NC-SA 2.0