Das deutsche Bildungssystem wird kontinuierlich auf seine Bildungschancen geprüft. Ob Pisa-Studie, OECD-Bericht, Bildungsberichterstattung der Bundesregierung oder die jüngste Erhebung der Bertelsmann-Stiftung, die Diagnose bleibt dieselbe: In deutschen Schulen sind die Bildungschancen ungleich verteilt. Die daraus folgende Kluft, deren Problematik und Ursachen und ein Blick über die deutschen Grenzen hinaus, sind die Themen im aktuellen Medienmonitor.

 

Die Urbanstraße –  eine beispielhaft visualisierte Bildungskluft in Berlin
Einige Kinder werden studieren und andere um eine Ausbildung kämpfen, obwohl sie nur wenige Schritte voneinander entfernt wohnen, heißt es in einem Artikel der ZEIT. In Deutschland trennt viele Kinder die sogenannte “Bildungskluft”. Die Urbanstraße in Berlin-Kreuzberg ist knappe 34 Meter breit und visualisiert diese Kluft, so das Medium. Viel Beton, 3000 Bewohnerinnen und Bewohner, davon 80 Prozent Einwanderinnen und Einwanderer und 60 Prozent, die mit Unterstützung vom Amt leben, kennzeichnen den südlichen Teil der Straße. Im Norden liegen hingegen die frisch sanierten Altbauten, die als “beste Kreuzberger Lage” gepriesen werden. Unzählige Babymode-Läden sowie Galerien schmücken den Kiez und der Quadratmeterpreis liegt hier 40 Prozent über dem Mietspiegel. Das Altbauviertel und die Neubausiedlung liegen im Einzugsbereich derselben Grundschule. Die Menschen auf beiden Seiten der Straße leben laut ZEIT jedoch in unterschiedlichen Universen. Das Fazit der ZEIT: Eine solche Teilung, wie sie in der Urbanstraße zu erkennen ist, wäre in Ordnung, wenn nicht die Chancen auf eine Zukunft ebenso aufgeteilt wären: viele Chancen für die Kinder in den Altbauten, wenige für die in der Betonburg.

 

Das Sortieren nach sozialer Herkunft
Trotz trennender Straßenzüge und sozial homogener Wohnblöcke ist von staatlicher Seite eine Durchmischung in den Schulen vorgesehen. Demnach sollen Kinder beiderseits der Urbanstraße an der Bezirksschule in Kreuzberg sechs Jahre lang miteinander lernen. Etliche Eltern flüchten jedoch dorthin, wo sie bessere Angebote vermuten. Zurück bleiben jene, die nicht nach Alternativen suchen wollen oder können. Eine Folge, die nicht nur im Viertel rund um die Urbanstraße zutage tritt. Auch der Bericht  “Segregation an Grundschulen: Der Einfluss der elterlichen Schulwahl” des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, die 108 Berliner Schulen prüften, bestärkt und bestätigt diese Tatsache. Die Untersuchungen haben ergeben, dass Eltern die ihnen zugewiesenen Schulen meiden, wenn diese einen hohen Ausländeranteil haben. Sechs Prozent der Eltern gaben bei einer der Umfragen sogar zu, Scheinadressen in anderen Bezirken bezogen zu haben, um die ihnen zugeteilte Schule zu umgehen.

 

Der Bildungsbericht der Bundesregierung zeigt, dass 15 Prozent der Kinder als abgehängt gelten. Es trifft meist die Armen und meist von Anfang an. Jeder siebte Viertklässler bzw. jede siebte Viertklässlerin kann kaum lesen. Fast jeder oder jede Fünfte hat am Ende seiner oder ihrer Pflichtschulzeit nicht mal Basiskenntnisse im Schreiben, Rechnen, Lesen und einer Fremdsprache. Es gebe “einen stabilen Sockel der Abgehängten”, heißt es im Bericht der Bundesregierung. “Wir produzieren eine homogene Gruppe von Bildungsverlierern”, lautet daher auch ein Fazit im Bildungsbericht.

 

Soziales Miteinander schaffen
Dabei ist es bei der heutigen vielfältigen Gesellschaft von essentieller Bedeutung, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft das Zusammenleben üben können, so der Soziologe Heinz Bude. Die Erschaffung eines solchen Ortes sei Kernaufgabe staatlicher Institutionen, also die der öffentlichen Kindergärten und Schulen. Dort dürfe die soziale Herkunft nicht zählen. Das Bildungssystem erfülle diese Kernaufgabe jedoch nicht und das sei fatal, da Integration so nicht funktionieren könne und dadurch eine Chancenausgleich nicht gegeben sei. Anstatt die Unterschiede zwischen Kindern auszugleichen, werden sie durch das Schulsystem nur noch vergrößert, so der Soziologe. Das Online-Magazin Deutsch-türkische-Nachrichten.de berichtet sogar von einer erkennbaren ethnischen Diskriminierung. Einige Kinder würden nach ihren Informationen aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse in Sonderschulen abgeschoben. Manche Kinder würden sogar komplett aus dem Schulsystem herausfallen, da es bei ihnen gar nicht erst zu einer Einschulung käme.

 

Auch in Österreich belegen zahlreiche Studien, dass der Schulerfolg von der sozialen Schicht der Eltern abhängt und der Anspruch auf Chancengleichheit im Bildungssystem nicht gegeben ist, so die NZZ. Aus Sicht des Mediums sei es aber essentiell, Unterschiede zu minimieren und Gemeinsamkeiten zu maximieren, anstatt die Kinder nach sozialer Herkunft zu selektieren. Aber auch das österreichische Bildungssystem verhindere dies. Bereits im frühen Alter erfolge eine Selektion vermeintlich begabter Schülerinnen und Schüler von weniger begabten. Laut der NZZ gelte hier: je höher das Prestige des Schultyps, desto niedriger ist der Anteil mehrsprachiger Kinder mit Migrationshintergrund.

 

Die ewigen Reformversuche
Expertinnen und Experten des Bildungssektors haben sich vielfach die Frage gestellt, wie diesen Problemen entgegengewirkt werden kann. In Berlin, so berichtet die ZEIT, wurde in den vergangenen Jahren eifrig an den Schulen “herumreformiert”. So fusionierten die ersten zwei Klassen zu einer gemeinsamen Klassenstufe, in der die Kinder im Rahmen des “jahrgangsübergreifenden Lernens” im eigenen Tempo vorankommen sollten. Zudem wurde die Einschulung vorgezogen und viele Berliner Kinder sind nun an ihrem ersten Schultag gerade mal fünfeinhalb Jahre alt. Wie in den meisten Bundesländern wurde die Schulzeit auf zwölf Jahre verkürzt. Die Kinder sollen früher, schneller, eigenständiger lernen. Inzwischen legen erste Studien wie der Chancenspiegel der Bertelsmann Stiftung nahe, dass schwache Schülerinnen und Schüler seit den Reformen nicht aufgeholt haben, sondern sogar teilweise weiter zurückgefallen sind.

 

Sich der negativen Entwicklungen bewusst, wird in Deutschland weiterhin der Versuch unternommen, grundlegende Veränderungen im Bildungsbereich so umzusetzen, dass mehr Bildungsgerechtigkeit und Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten gegeben sind. Das nun vorliegende Nationale Dossier 2011/2012 gibt einen Einblick in die aktuellen Entwicklungen und Strukturen sowie Verantwortlichkeiten vom Elementarbereich bis zur Weiterbildung, so der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz, Udo Michallik, in Berlin. Für die schulische Bildung steht immer noch die Qualitätsentwicklung im Zentrum der Reformanstrengungen. Besonders Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sollen gezielt gefördert werden, damit sie ihren Leistungsstand verbessern können, so die Absichtserklärung des Bundesregierung  “Informationsnetz zum Bildungswesen in Europa” (EURYDICE).

 

In Österreich ist sich die sozialdemokratische Unterrichtsministerin, Claudia Schmied, sicher, dass Ganztagsschulen ausgebaut werden müssen, damit Kinder dort bis zum Nachmittag betreut werden und unter Beaufsichtigung ihre Hausaufgaben machen können. Das österreichische Ministerium wird ab 2014 jährlich 160 Millionen Euro investieren und die Betreuungsquote soll in den nächsten fünf Jahren auf rund 30 Prozent verdoppelt werden. In den Ganztagsschulen sieht Schmied außerdem den “Motor der Integration”, denn das gemeinsame Lernen und Spielen erleichtere den Spracherwerb, berichtet die NZZ.

 

Wären also Ganztagsschulen ein Schritt zur Lösung der Probleme? Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beschreibt das Konzept der Ganztagsschule folgendermaßen: “Das Ganztagsschulprogramm ist zu einem gelungenen Gemeinschaftsprojekt von Bund und Ländern geworden.” So heißt es auf der Webseite des BMBF, dass von Ganztagsschulen erwartet wird, die Rahmenbedingungen für unterrichtliches und außerunterrichtliches Lernen zu verbessern, um damit die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft zu verringern.

 

Foto: flickr.com / Axel Schwenke / Erdfunkstelle Usingen 2005 / CC BY-SA 2.0