Im Oktober 2010 startete in Berlin das Projekt “Sprachbotschafter” mit dem Ziel, im eigenen Kiez mit kleinen Schritten zu mehr Bildungs-
gerechtigkeit beizutragen. Die Koordinatorin des Peer-Education-Projekts, Anna-Lilja Edelstein, berichtet über die Arbeit der Jugendlichen, die sich in Grundschulen engagieren und über die Herausforderungen des Lernens zwischen Gleichaltrigen sowie die Begleitung durch Lehrende.
Als Peer-Coaches besuchen Jugendliche im Rahmen des Projekts “Sprachbotschafter” einmal wöchentlich für mehrere Stunden Grundschulen – häufig mit hohem Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund – um dort Grundschulkinder im Unterricht zu begleiten, sie beim Lernen zu unterstützen oder kleine Projekte mit ihnen durchzuführen. Dabei geht es nicht nur um die Förderung sprachlicher Kompetenzen, sondern auch und vielleicht sogar vor allem um den Aufbau von Beziehungen, die über Sprache und Kommunikation entstehen und umgekehrt diese auch weiterentwickeln. Soziale Beziehungen sind – wie auch wissenschaftliche Forschungen gezeigt haben – die Basis für erfolgreiches Lernen, denn nur wenn die Beziehungen im schulischen Alltag positiv erlebt werden, lernen Schülerinnen und Schüler nicht nur gerne sondern auch erfolgreich. Deswegen verstehen sich die Jugendlichen vor allem als Begleiterinnen, Unterstützer und Freunde für Jüngere. Ich möchte zunächst an einem Beispiel verdeutlichen, wie sich die Zusammenarbeit vollzieht.
Einmal in der Woche machen sich die Sprachbotschafterin Mariam und der Sprachbotschafter Alex für zwei Stunden auf den Weg in die Grundschule in ihrem Kiez, wenige Stationen mit dem Bus von ihrer eigenen Schule entfernt. Meistens helfen sie Kindern der jahrgangsgemischten Klasse 3 bis 6 beim Lesen und Schreiben oder bei allen Aktivitäten, die sonst im Unterricht geschehen. Manchmal führen sie auch kleine eigene Projekte durch. Einmal haben sie beispielsweise festgestellt, dass die Grundschülerinnen und -schüler zwar bei Facebook sind, sich der Gefahren von Facebook und des Internets im Ganzen aber gar nicht bewusst sind. So haben sie recherchiert und eine Unterrichtsstunde zu diesem Thema eigenständig vorbereitet und durchgeführt. Die Grundschullehrerin war sehr dankbar, denn so richtig kannte sie sich mit dem Thema Facebook auch nicht aus. Für die kleinen Kinder war es große Klasse, mit den Jugendlichen darüber zu sprechen, doch auch Mariam und Alex haben viel dabei gelernt: nicht nur die Gefahren von Facebook selber besser einzuschätzen, sondern auch eine Stunde anzuleiten, sich zu präsentieren und dabei Verantwortung zu übernehmen. “Obwohl es sehr anstrengend ist, manchmal mit den Kleinen, hat es doch auch sehr viel Spaß gemacht” sagt Mariam, sie hätte sich das gar nicht so schwierig vorgestellt. Jetzt kann sie auch ihre eigene Lehrerin besser verstehen: “wie schwierig das manchmal ist, Lehrer zu sein”. Aber auch Mariams Lehrerin hat etwas dabei gelernt, denn ein wenig erstaunt war sie schon darüber, wie gewissenhaft Mariam das Projekt vorbereitet und wie eigenständig sie es gemeinsam mit Alex organisiert hat.
Miteinander lernen – voneinander profitieren
So funktioniert Peer-Education. Und so haben die Lehrenden und die Lernenden, Schülerinnen und Schüler, Freude am Lernen. Das gilt also für beide Seiten. Die Lerneffekte stellen sich ganz natürlich ein: Für die jugendlichen Botschafterinnen und Botschafter bedeutet dies, durch das eigene Handeln zu lernen und sich dabei als selbstwirksam zu erleben. Und es bedeutet, das schulische Lernen durch soziale Sinnerfahrung zu sichern. Dabei handelt es sich um soziales und demokratisches Lernen, das man nicht aus dem Schulbuch sondern nur über eigene Erfahrungen und ein Miteinander erwerben kann. Das ist tatsächlich gelebtes soziales Lernen. Die kleinen Kinder bekommen durch die “Großen” eine individuelle Unterstützung” und manchmal reicht es auch einfach nur aus, daneben zu sitzen, ihnen ein bisschen über die Schulter zu blicken und Tipps zu geben, damit die Kinder ihre Aufgaben machen und merken, dass das gar nicht so schwer ist” sagt der 15-Jährige Alex, der nun schon seit einigen Monaten als Sprachbotschafter aktiv ist. Auch er merkt, dass es den Kindern viel Spaß macht zu lernen, wenn er einmal in der Woche kommt, “sie rennen immer gleich auf mich zu und zeigen mir ihre Aufgaben. Dann wollen alle mit mir lernen und ich muss mich um alle gleichzeitig kümmern, das ist ganz schön anstrengend aber auch sehr schön”.
Implementierung des Projekts
Das Projekt “Sprachbotschafter” läuft in Berlin seit fast drei Jahren. Mittlerweile sind sieben Projektschulen beteiligt, die Sprachbotschafter in Grundschulen entsenden und zwölf Grundschulen, die Sprachbotschafter empfangen. Auch im Ruhrgebiet und Düsseldorf machen Schulen mit. Das Projekt entstand ursprünglich an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Die Zukunftsstiftung Bildung der GLS Treuhand e.V. kümmert sich seit 2010 um den bundesweiten Auf- und Ausbau des Projekts. Dabei ist das Konzept “Sprachbotschafter” offen gestaltet, denn alle Schulen haben ihre eigene Funktionsweise und müssen das Projekt in ihren eigenen Alltag einbetten. Zusätzlich müssen Zeitfenster der Sekundarschulen mit den kooperierenden Grundschulen synchronisiert werden.
Das Projekt bietet Herausforderungen, die das Potenzial besitzen, die Institution Schule zu öffnen und zu verändern, denn die beiden Schulformen treten in einen gemeinsamen Prozess ein, der es ihnen erlaubt, sich gegenseitig kennen zu lernen, auszutauschen und nachhaltig zu kooperieren. Im Idealfall kann so durch Schule Bewegung im Kiez entstehen und es werden sinnvolle Vernetzungen von Akteuren im Stadtteil geschaffen; durch gemeinsame Projekte, Ausflüge oder Aktivitäten, in die auch Ehrenamtliche und Eltern einbezogen werden können. So geschah es beispielsweise bei dem Theaterprojekt “Der Regenbogenfisch”, das Sprachbotschafterinnen und -botschafter an einer Grundschule mit hohem Migrantenanteil in Berlin durchgeführt haben. Bei dem Theaterstück wirkten auch Eltern mit, indem sie Kostüme genäht oder Verpflegung für die Jugendlichen und Kinder zu den Proben am Nachmittag mitgebracht haben. Solche Vernetzungen sind außerordentlich produktiv für alle an der Schule Beteiligten.
Lehrerinnen und Lehrer nehmen eine unterstützende und begleitende Rolle der Sprachbotschafter ein, um diese angemessen in ihren Klassenraum aufzunehmen. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, bekommen auch die Lehrpersonen eine Supervision durch die Projektkoordinatoren. Lehrerinnen und Lehrer empfinden diese Rolle häufig erst einmal als befremdlich, denn sie müssen “fremde” Jugendliche in ihren Unterricht aufnehmen und diese in ihrem Handeln unterstützen, ohne ihnen aber dabei ihre Souveränität abzusprechen. Dies ist keine einfache Aufgabe, so zweifelte auch an einer Grundschule eine Lehrerin erst ein wenig, ob es nicht doch mehr Arbeit machen würde, wenn man noch drei zusätzliche Kinder mit im Unterricht hätte. Mittlerweile sieht sie das aber nicht mehr so, spätestens “seit die Sprachbotschafter sich liebevoll um einzelne Kinder kümmern, die dringend Hilfe benötigen”.
Das Projekt “Sprachbotschafter” setzt also auf unterschiedlichen Ebenen an, und die Implementierung bringt verschiedene Herausforderungen mit sich: Eine Herausforderung bei der Etablierung des Projekts stellen beispielsweise die strukturellen Gegebenheiten der unterschiedlichen Schulen dar. Daher muss die Verankerung des Projekts im Schulalltag individuell für jede Schule vereinbart werden. Dies bedeutet, dass zum Teil Strukturen aufgebrochen werden müssen damit Raum für das Projekt entstehen kann. Die Hürde sich in einen gemeinsamen Entwicklungsprozess zu begeben kann aber zur Stärke werden, denn die Zusammenarbeit, die durch die Kooperation entsteht, ist mittlerweile anerkannter Baustein der Schulentwicklung und wirkt sich positiv auf die Ausformung und das Zusammenleben der Kinder in der Schule aus.
Das Modell “Sprachbotschafter”
In der Regel begleiten die “Lernhelfenden” am Vormittag einmal wöchentlich Grundschulkinder im Unterricht. Die Aufgaben und Tätigkeiten werden im Vorhinein gemeinsam durch Lehrende und Helfende definiert. Die Ausgestaltung des Projekts an den Grundschulen ist individuell auf die Bedürfnisse der Kinder, der Lehrerinnen und Lehrer sowie auf die Interessen der Sprachbotschafterinnen und Sprachbotschafter abgestimmt. So erhält das Tun der Jugendlichen einen festen Rahmen, in dem sie nach gemeinsamer Absprache mit den Lehrerinnen und Lehrern aktiv werden können. Die Botschafterinnen und Botschafter sind einerseits im Unterricht anwesend und übernehmen dort begleitende Aufgaben andererseits arbeiten sie auch in Einzelarbeit mit Kindern in Teilungsräumen oder führen kleine Projekte durch. Einige Jugendliche begleiten Kinder zusätzlich am Nachmittag im Freizeitbereich. Dann bieten sie Hausaufgabenbetreuung oder eigene AGs an, wie zum Beispiel Malen, Basteln, Singen oder Theater.
In der Vorbereitung zum Projekt findet ein Training mit den angehenden Sprachbotschafterinnen und -botschaftern statt mit dem Ziel, sie angemessen auf ihre Tätigkeiten in den Grundschulen vorzubereiten. In diesem Prozess werden die Jugendlichen durch die Projektleiter in ihre Arbeit eingeführt (“gecoacht”) und auch in späteren Treffen durch gemeinsame Reflexionseinheiten kontinuierlich begleitet. Hier können Probleme und Herausforderungen offen angesprochen und Planungen für Tätigkeiten und Projekte vorgenommen werden. Das gemeinsame Reflektieren ist ein zentraler Baustein des Sprachbotschafter-Projekts, denn Lernhelferin oder Lernhelfer zu sein, ist eine verantwortungs- und herausforderungsvolle Aufgabe, die sich aus der kontinuierlichen Tätigkeit heraus entwickeln muss. Die Jugendlichen wachsen an dieser Herausforderung, obwohl sie immer wieder auf Hürden stoßen, die sie überwinden müssen, oder gerade deswegen. Auch die Lehrpersonen lernen junge Menschen ihre Selbstständigkeit erproben zu lassen. Dazu gehört auf der Seite der Lehrenden Vertrauen und dieses Vertrauen spüren wiederum die Jugendlichen, die dadurch in ihrem Tun noch einmal bestärkt werden. So entstehen nachhaltige Prozesse, die ihre Wirkung im Idealfall über die Grenzen des Projekts hinaus entfalten.
Es ist immer wieder spannend wenn die Sprachbotschafterinnen und -botschafter von ihren Erfahrungen und Erlebnissen im Projekt berichten und alle Beteiligten freuen sich jedes Mal wieder auf einen neuen Durchlauf.
Foto: flickr/lumaxart
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