Die Digitalisierung ermöglicht schnelle Kommunikation und Informationsbeschaffung. Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf die Gesellschaft, die Politik und die Bildung? Was bedeuten Zeitzwänge für die politische Bildung? Michael Görtler, Sozialwissenschaftler und Referent für politische Jugend- und Erwachsenenbildung, hat sich dazu Gedanken gemacht.

 

 

Zeitknappheit als Herausforderung für Mensch und politische Bildung

 

Heutzutage scheint den Menschen weniger Zeit zum Innehalten, zum Nachdenken oder Abwägen zu bleiben, als ihnen lieb ist. Das Handeln im Alltag ist vielmehr von Zeitzwängen geprägt, die von außen einwirken. Dies gilt auch für den Bildungsbereich.

 

Das zeigt sich beispielsweise an den letzten großen Bildungsreformen, die oft mit der Intention einer Standardisierung und Beschleunigung von Bildungsprozessen erfolgten, wie die Einführung von Bildungsstandards, das achtstufige Gymnasium oder der Bologna-Prozess zeigen. Solche bildungspolitischen Maßnahmen wollen Anforderungen und Prüfungsergebnisse über regionale und nationale Grenzen hinaus vergleichbar machen (vgl. BMBF 2007) und zwar mit dem Nebeneffekt, Zeit in der schulischen und universitären Ausbildung einzusparen. Diese Bemühungen sind zum Teil auf harsche Kritik gestoßen (vgl. Uhl 2006): Viele Einwände unterstreichen den Verlust von Freiräumen für die individuelle Begegnung des Einzelnen mit der Welt, denn wo Einheitlichkeit herrscht, bleibt keine Zeit für Experimente. Und das scheint die Befürchtung zu bestätigen, dass pädagogische Bemühungen mehr und mehr mit Zeitknappheit zu kämpfen haben. Damit drohen Bildungsprozesse in der Gegenwart, ihren eigenen Ansprüchen wie Freiheit, Selbst- und Mitbestimmung nicht mehr gerecht zu werden. Das ist für die politische Bildung besonders bedenklich, denn wo Zeitzwänge die kritische Betrachtung der gesellschaftlichen Strukturen und der ökonomischen Einwirkungen den Einzelnen behindern, läuft sie Gefahr, ihr Ziel zu verfehlen, nämlich mündige Bürgerinnen und Bürger zu erziehen.

 

Angesichts des beschriebenen Szenarios konfrontiert die digitale Welt die politische Bildung mit zahlreichen Herausforderungen. Im World Wide Web ist längst eine parallele Welt entstanden und das sogenannte Web 2.0 bietet über soziale Netzwerke, Musik- und Videoportale, Wissensplattformen, Blogs, Chats usw. mannigfaltige Möglichkeiten zum gemeinsamen Austausch, die von der politischen Bildung aufgegriffen werden müssen (vgl. Besand/Sander 2010). Dazu gehören etwa die Bereitstellung und Verbreitung von Hintergrundinformationen, die Diskussion von politischen Angelegenheiten, Online-Umfragen, der direkte Kontakt zu Entscheidungsträgern und -trägerinnen oder die spontane Mobilisierung von Teilöffentlichkeiten zu aktuellen Themen. In diesem Interaktionsraum entstehen nicht zuletzt neue Kommunikationsformen und -rituale, die für das Handeln bestimmend sind.

 

Beispielhaft werden einige Herausforderungen für die politische Bildung genannt: Zunächst geraten unter anderem rechtliche Aspekte in den Fokus der politischen Bildung, weil sie die Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger betreffen:

 

Dazu gehört beispielsweise die Instrumentalisierung des Netzes seitens radikaler oder extremistischer Gruppierungen. Im World Wide Web finden sie Möglichkeiten, um sich auszutauschen und illegale Aktivitäten zu koordinieren. Im Netz, aber auch im realen Leben erhalten solche Gruppierungen über die Lebenswelt der Jugendlichen Zugang zu ihnen. In diesem Rahmen spielt oft die Musik, z.B. über sogenannte Schulhof-CDs oder Konzerte, eine wichtige Rolle. Die politische Bildung steht hier vor der Aufgabe, solche Bestrebungen zu enttarnen.

 

Aber auch die Verbreitung von privaten Handyvideos ist von Bedeutung, weil diese z.B. für Mobbing missbraucht werden. Auch die systematische Quälerei von Jugendlichen über das Internet, etwa über Postings in Foren, sozialen Netzwerken oder Chats, wird unterschätzt.

 

Daten werden erhoben und gespeichert. Hier geht es für die politische Bildung um Aufklärungsarbeit, nämlich darum, dass jeder Spuren im Netz hinterlässt und bei der Weitergabe von sensiblen Daten daher Vorsicht geboten sein sollte. Aus diesen Gründen ist die Vermittlung von Medienkompetenz wichtig, um den Umgang mit Neuen Medien in der digitalen Welt zu beherrschen. Das Web 2.0 ist längst kein bloßes Wissensreservoir mehr, sondern ein offener Gestaltungsraum, der es jeder Nutzerin und jedem Nutzer ermöglicht, ihre / seine Ansichten und Meinungen kund zu tun, Mitbürgerinnen und -bürger zu mobilisieren oder, wie bereits erwähnt, direkt an Entscheidungsträgerinnen und -träger heran zu treten. Hier werden klare Berührungspunkte von Lebenswelt und Politik sichtbar, die im Unterricht aufgenommen werden müssen.

 

Das letzte Beispiel betrifft eine etwas anders gelagerte Herausforderung, nämlich die Migration. In diesem Bereich hilft die politische Bildung durch interkulturelles Lernen, Ängste und Vorurteile abzubauen. Dabei kann der Austausch mit anderen Kulturen helfen. Ein Ansatzpunkt besteht in der Möglichkeit, das europäische Politikfeld mit Hilfe von Planspielen darzustellen. Planspiele simulieren die institutionellen Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse, in denen Schülerinnen und Schüler die Rolle von Politikern und Politikerinnen einnehmen. Auf diese Weise wird das politische Geschehen anschaulich, leichter nachzuvollziehen und erfahrbar. Die Herausforderung der Migration lässt sich in diesem Rahmen beispielsweise anhand der Asylpolitik darstellen. Eine große Auswahl an Planspielen findet sich in der Datenbank der Bundeszentrale für politische Bildung.

 

 

Konsequenzen für Lehr- und Lernprozesse

 

Aus Sicht der politischen Bildung stellt sich nun die Frage, wie Inhalte in der digitalen Welt zeitgemäß vermittelt werden können. An dieser Stelle kommen didaktische und methodische Aspekte ins Spiel, um an dem Wissens- und Erfahrungsstand der Adressaten sowie ihren Erlebnissen anzuknüpfen. Im Mittelpunkt steht dabei die Unterrichtsgestaltung und das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden. Gerade das enge Zeitkorsett der Schule widerspricht tendenziell dem Anspruch, dass Lernende Kreativität und Phantasie entfalten, weil das Durchdringen von Gegenständen oft ein langsamer Prozess ist (vgl. Reheis 2007). Die bisherigen Ausführungen weisen darauf hin, dass vor allem Zeiträume für selbstgesteuertes Lernen wichtig sind, um den Lernenden den Umgang mit Neuen Medien nah an ihrer Lebenswelt zu ermöglichen. Der Umstand, dass Menschen nicht nur mit unterschiedlichen Sinnen, sondern auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten lernen, macht darauf aufmerksam, dass der Versuch die Schülerinnen und Schüler in ein Schema zu pressen, kontraproduktiv ist. Vielmehr ist es wichtig, Zeit zu lassen, damit sich das Denken, Fühlen und Handeln entfalten kann, und zwar individuell in Abhängigkeit der Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmenden. Dabei spielt das „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ (J.E. Pestalozzi) eine entscheidende Rolle, weil es den Menschen als Ganzes anspricht und versucht, der kognitiven, affektiven und aktionalen Ebene gerecht zu werden. Für den Unterricht heißt das, nicht nur Gelegenheiten zu schaffen, Gegenstände zu analysieren, sondern auch zu beurteilen und in diesem Rahmen auch aktiv zu werden, z.B. durch handlungsorientierte Methoden.

 

Zusammenfassend erfordert die beschriebene Konstellation auf der einen Seite didaktische und methodische Freiheit für die Lehrkräfte bei der Planung und Gestaltung und bietet auf der anderen Seite den Lernenden im Unterricht die Gelegenheit, sich Themen und Sachverhalte über ihre jeweils individuellen Zugänge zu erschließen. Mehr Zeit – auf beiden Seiten – damit der Lehr-Lern-Prozess erfolgreich abgeschlossen werden kann. Und mit diesem formulierten Anspruch ist am Ende die Hoffnung verbunden, Motivation für den Umgang mit Neuen Medien zu schaffen, weil die Schülerinnen und Schüler an unterschiedlichen Stellen anknüpfen können. Und so können die Lehrenden den individuellen Zugang zum World Wide Web und seinen Formaten nutzen.

 

 

 

Literatur

Besand, Anja/Sander, Wolfgang (Hrsg.) (2010): Handbuch Medien in der politischen Bildung, Wochenschau Verlag.

Bildung und Forschung (BMBF), Bonn, Berlin, online abrufbar unter (Stand Dezember 2012):

http://www.bmbf.de/pub/zur_entwicklung_nationaler_bildungsstandards.pdf.

Klieme, Eckhard et al. (2007): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, Expertise, hrsgg. v. Bundesministerium für

Reheis, Fritz (2007): Bildung contra Turboschule!: Ein Plädoyer, Herder Verlag. 

Uhl, Siegfried (2006): Die Bildungsstandards, die Outputsteuerung und ihre Kritiker, hrsgg. v. Institut für Qualitätsentwicklung (IQ), Wiesbaden, online abrufbar unter (Stand Dezember 2012):

http://www.rhs-giessen.de/data/intern/bildungsstandards_und_kritiker.pdf?cid=612167c60e0abb6af32beba76e7caff7.

 

 

Foto: flickr/Fey Ilyas