Dr. Johannes Meyer-Hamme ist Lehrer an der Julius Leber Schule Hamburg, zugleich Dozent an der Universität Hamburg im Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte. In diesem Interview erklärt er, welchen Herausforderungen sich die Geschichtsvermittlung in einer heterogenen Gesellschaft gegenübersieht und wie Lehrer und Lehrerinnen versuchen können ihnen gerecht zu werden. Er macht deutlich, dass neue Medien und das Internet den Unterricht bereichern können, ohne die Widersprüchlichkeiten der dort erzählten Geschichten außer Acht zu lassen.

 


Redaktion: Herr Dr. Meyer-Hamme, Sie benennen als eines Ihrer Forschungsinteressen die „historische Identitätskonstruktionen unter den Bedingungen gesellschaftlicher Heterogenität“. Was verstehen Sie unter gesellschaftlicher Heterogenität?

 

Meyer-Hamme: Unsere Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass Menschen mit verschiedenen kulturellen Zugehörigkeiten hier leben. Unter anderem durch Migrationsprozesse hat sich unsere Gesellschaft verändert, ist bunter und vielfältiger geworden. Diese Kulturen sind deshalb wichtig, weil sie unsere Perspektiven auf Geschichte maßgeblich mit beeinflussen. Auf gesellschaftlicher Ebene stellt sich die Frage: Wie wollen wir damit umgehen, wenn wir unterschiedliche Geschichten als relevant erachten – und daraus unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen? Anhand konkreter Fallbeschreibungen kann dann der Zusammenhang von kulturellen Zugehörigkeiten, gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Erfahrungen untersucht werden. Der Migrationshintergrund ist nur ein Aspekt, der die Heterogenität beschreibt, deshalb ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass hier ein breiter Kulturbegriff vertreten wird, der Kultur nicht an Nation bindet.

  

Redaktion: Inwiefern beeinflusst diese gesellschaftliche Heterogenität das Geschichtsbewusstsein und -begreifen einer Gesellschaft?

 

Meyer-Hamme: Geschichtsbewusstsein ist perspektivenabhängig. Je nach kultureller Zugehörigkeit werden die Geschichten anders erzählt, werden andere Aspekte der Vergangenheit als erinnerungsbedürftig angesehen. Das Erzählen von Geschichte ist deshalb so wichtig, weil damit Identitäten, bzw. die historische Dimension davon, konstruiert werden. Wer „wir“ sind und wer „die anderen“ und welche Aufgaben sich für die weitere Zukunft ergeben, sind Fragen, die durch das Erzählen von Geschichten beantwortet werden.

In heterogenen Gesellschaften werden unterschiedliche Geschichten über die Vergangenheit erzählt – und damit konstruieren sich unterschiedliche Erinnerungsmilieus. Jan Motte und Rainer Ohliger haben in diesem Zusammenhang die doppelte Bedeutung des Begriffs der „geteilten Erinnerung“ eingeführt. Die Erinnerung in der heterogenen Gesellschaft sind „divided memories“, weil die als relevant erachteten Geschichten sehr verschieden sind und damit unterschiedliche Milieus konstruiert werden; es wäre aber wichtig, stärker darauf hinzuarbeiten, dass es „shared memories“ werden, dass es also eine Verständigung über die jeweiligen Geschichten gibt – und eine gegenseitige Anerkennung der historischen Orientierungen.

  

Redaktion: Sie sind selbst Lehrer. Welchen konkreten Herausforderungen sehen Sie sich bei der Vermittlung von politischen und zeitgeschichtlichen Themen gegenüber?

 

Meyer-Hamme: Ich möchte zunächst ein Beispiel aus meinem Buch „Historische Identitäten und Geschichtsunterricht“ anführen. Darin untersuche ich Schülerinnen und Schüler einer Schulklasse, die sich ganz unterschiedlichen Kulturen zugehörig fühlen. Eine Schülerin erzählte mir, dass ihr Vater politischer Häftling in der DDR war und von der Bundesrepublik freigekauft wurde. Kern der Identitätskonstruktion dieser Schülerin war eine ganz bestimmte Deutung der DDR, nämlich die Betonung des Unrechtsstaates, weil ihr Vater politisch verfolgt wurde. Sie war sehr erbost, dass diese Deutung der DDR im Geschichtsunterricht nicht vermittelt wurde, sondern dass hier die wirtschaftspolitischen Fragen im Zentrum standen. Für die anderen Schülerinnen und Schüler des Kurses war dieses Thema und diese Frage aber nicht zentral, sondern für sie standen andere Themen im Fokus.

Daraus lässt sich ableiten, dass Schülerinnen und Schüler in Abhängigkeit der Erinnerungsmilieus bereits vor dem Unterricht historische Urteile bilden, die dann als Folie dienen, mit der sie die Inhalte des Unterrichts bewerten. Diese Urteile beeinflussen, was als interessant oder langweilig, was als falsch oder richtig wahrgenommen wird. Die Herausforderung als Lehrer einer Klasse mit einer heterogenen Schülerschaft ist, dass diese unterschiedlichen Perspektiven zwar relevant sind, man sie als Lehrer nur zum Teil kennt und dass sie sehr verschieden sind.

  

Redaktion: Welche Ansätze und Strategien verfolgen Sie, um ihren Schülerinnen und Schülern zeitgemäß die „alten Geschichten“ beizubringen?

 

Meyer-Hamme: Ganz grundlegend ist es, ein Verständnis von Geschichte zu vermitteln, dass Geschichte nicht mit Vergangenheit gleichsetzt, sondern dass die Schülerinnen und Schüler verstehen, dass jede Erzählung über die Vergangenheit perspektivenabhängig ist und eine Botschaft für die Gegenwart und Zukunft enthält. Hier ist dann entscheidend, dass es nicht um den „alten Kram“ an sich geht, sondern um eine heutige Verständigung darüber, was wir aus diesen Geschichten ableiten wollen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die Schülerinnen und Schüler zunächst ihre Perspektiven reflektieren und die Möglichkeit haben, diese zu äußern und damit die Frage, was an der Vergangenheit als relevant erachtet wird und was nicht, ebenso diskutiert werden kann wie die Frage, wie die Vergangenheit gedeutet wird: als Beginn einer Tradition, die es fortzusetzen gilt; als Regel, die wir aus dem Geschehen für die Gegenwart und Zukunft ableiten können; als Teil einer Entwicklung, die uns anzeigt, wie die Entwicklung in Zukunft aussehen könnte; oder als Kritik an bisherigen Erzählungen.

Wenn dies erfolgt, dann kann untersucht werden, inwieweit die Geschichten oder die Fragen der Schülerinnen und Schüler plausibel sind, so dass sie am Ende dazu Stellung nehmen können.

  

Redaktion: In Ihrem Aufsatz „Dieses Kostüm ,Deutsche Geschichte‘. Historische Identitäten Jugendlicher in Deutschland“ im Buch „Crossover Geschichte“ schreiben Sie, dass die Erinnerungsmilieus und historischen Identitäten der Schülerinnen und Schüler als Voraussetzung historischen Lernens ernst genommen werden müssen. Hat Zeitgeschichte und ihr Begreifen also immer auch etwas mit unserer eigenen Geschichte zu tun?

 

Meyer-Hamme: Ja, selbstverständlich. Denken Sie an die Schülerin, die ihre Perspektive auf die DDR offen gelegt hat. Das Verständnis jeder Geschichte ist von unseren historischen Identitäten geprägt, also dem, was wir selbst als für uns relevante Geschichten über die Vergangenheit wahrnehmen und kommunizieren. Ob es nun aber um die Kreuzzüge oder den Mauerbau geht, ist dabei zweitrangig.

 

Redaktion: Wie schafft es eine Lehrerin oder ein Lehrer in einer Klasse mit einem Anteil von 90 Prozent Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund all diesen Erinnerungsmilieus und historischen Identitäten gerecht zu werden?

 

Meyer-Hamme: Wir können keinen Unterricht machen, der für jeden Schüler, jede Schülerin passgenau auf die Erinnerungsmilieus zugeschnitten ist, weil wir als Lehrer oft nicht die genauen Hintergründe der Schülerinnen und Schüler kennen. Auch dürfen wir als Lehrer nicht die Schüler bestimmten Erinnerungsmilieus oder Kulturen eindeutig zuordnen – Bettina Alavi hat hier den Begriff der „Kulturalisierungsfalle“ eingeführt. Vielmehr ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit bekommen, ihre Perspektiven und historischen Orientierungen selbst einzubringen, und zwar in dem Maße, in dem sie selbst bereit sind, sich zu öffnen.

 

 Redaktion: Hilft es in solchen Klassen einen aktuellen Bezug herzustellen wie beispielsweise zum arabischen Frühling? Wie verbindet man solche aktuellen Themen mit dem zu vermittelnden Lehrplan zur Zeitgeschichte?

 

Meyer-Hamme: Es ist einerseits ganz wichtig, die Bedeutung der Themen für die Gegenwart zu reflektieren: Entweder ist zu fragen, inwiefern darüber heute gestritten wird und diese Debatten sind es, die den Ausgangspunkt für Lernprozesse bilden; oder es ist die Frage aufzuwerfen, vor welchem historischen Hintergrund die aktuellen Ereignisse zu verstehen sind. Andererseits kann der Geschichtsunterricht nicht nur aktualistisch dem Tagesgeschehen hinterherlaufen, denn der Geschichtsunterricht ist der einzige Ort, an dem Jugendliche systematisch in die Geschichtskultur eingeführt werden.

Der arabische Frühling kann also dazu dienen, historische Fragen zu stellen und Debatten darüber zu diskutieren. Im historischen Rückblick wird dann sicherlich auch die Frage des Kolonialismus und des Postkolonialismus ins Zentrum rücken. Die Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind dabei aber gut zu begründen und nicht beliebig herzustellen.

 

Redaktion: Ist mit einer fortschreitenden Globalisierung, die unter anderem durch Digitalisierung und Vernetzung begünstigt wird, damit zu rechnen, dass sich das Geschichtsbewusstsein verschiedener Nationen angleicht?

 

Meyer-Hamme: Geschichtsbewusstsein ist perspektivenabhängig. Deshalb ist zu vermuten, dass es nicht nur zu einer Angleichung kommt, sondern dass das Internet als Bühne genutzt wird, historische Orientierungen zu diskutieren. Interkulturelle Dialoge und Kontakte sind dabei sehr zu begrüßen, sie eröffnen Chancen für ein gegenseitiges Verständnis. Hilfreich für eine solche Verständigung ist, wenn es eine gegenseitige Anerkennung der jeweiligen Geschichten gibt. Allerdings ist es dafür auch wichtig, die Grundsätze von Wissenschaftlichkeit zu berücksichtigen und die Widersprüche auszuhalten. Nicht jede Geschichte, die im Internet kursiert, ist als plausibel anzuerkennen.

 

Redaktion: Wie können Internet und digitale Medien im Schulunterricht helfen, um Schülerinnen und Schüler dort abzuholen, wo sie sich sehr gerne aufhalten: im Netz?

 

Meyer-Hamme: Gute Erfahrungen habe ich damit gemacht, im Internet geführte Diskussionen im Unterricht zu analysieren und ggf. fortzuführen. Dann kann sichtbar gemacht werden, was sich hinter den geäußerten Positionen verbirgt, und auch, wie plausibel sie eigentlich sind. An einem solchen Beispiel können die Schülerinnen und Schüler ihre Perspektiven darlegen und es können daraus Fragen abgeleitet werden, die den Unterricht weiter steuern. Auch ist es gut möglich, Schülerinnen und Schüler selbst auf die Suche nach interessanten Diskussionen gehen zu lassen. Bisweilen bringen sie sich dann selbst ein und die Antworten anderer User können im Unterricht diskutiert werden. 

Wie bei allen Medien gilt aber auch hier, dass Abwechslung wichtig ist, nicht jede Einheit kann damit begonnen werden, Blogeinträge und -diskussionen zu untersuchen.

 

Redaktion: Nutzen Sie im Schulunterricht das Internet, Smartphones, Videokameras oder interaktive Whiteboards, um den Unterricht für Ihre Schülerinnen und Schüler interessanter zu machen?

 

Meyer-Hamme: Ich nutze das Internet häufig, gerne auch über das interaktive Whiteboard. Darüber zeige ich auch Filme, Grafiken und Karten. Interaktive Whiteboards können auch gut als eine Station beim Stationslernen dienen. Von Vorteil ist dabei die entstehende Abwechslung der Medien. Das Internet nutze ich vor allem um Positionen sichtbar zu machen, in welchen Zusammenhängen das Thema des Unterrichts gerade diskutiert wird. Mit anderen Worten stelle ich die Frage: Wo ist das Thema aktuell und strittig? Zudem nutze ich Informationen aus dem Internet allgemein zur Unterrichtsvorbereitung. 

Smartphones haben in meinem Unterricht bisher meist nur eine untergeordnete Rolle gespielt. So können die  Schülerinnen und Schüler beispielsweise selbstständig recherchieren, wenn Informationen im Unterricht fehlen. Gute Erfahrungen habe ich zudem damit gemacht, dass die Schülerinnen und Schüler in Projekten mit ihren Smartphones selbstständig Aufnahmen für einen Radiobeitrag oder einen Vortrag machen.

 

 Redaktion: Wie reagieren Schülerinnen und Schüler auf den Einsatz neuer Medien im Unterricht?

 

Meyer-Hamme: Zunächst begrüßen sie es. Aber meiner Erfahrung nach hängt das Interesse nicht in erster Linie an den eingesetzten Medien, sondern an der Frage, inwieweit sie mit neuen interessanten Einsichten aus dem Unterricht gehen, Einsichten, die in ihrer Lebenswelt eine Bedeutung haben. Hilfreich ist dabei eine Mischung aus verschiedenen Medien zu nutzen. Sie sind aber nur Mittel zum Zweck.

 

 Redaktion: Muss sich die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern verändern, um den Ansprüchen multikultureller Klassen und einer zunehmenden Digitalisierung der Lebenswelt gerecht zu werden?

 

Meyer-Hamme: Es ist sehr wichtig, beide Aspekte noch stärker in der Lehrerbildung zu berücksichtigen. Beides sind Querschnittsaufgaben für alle Unterrichtsfächer. Es reicht aber nicht, interkulturelles Lernen allgemein zu thematisieren, denn Lernen ist nur anhand konkreter Gegenstände möglich und diese sind fachspezifisch. Es geht also um fachspezifische Zuspitzungen.

Das gilt auch für die Medienbildung. Diese kann nur dann sinnvoll sein, wenn sie inhaltlich gefüllt ist, denn nur dann ist sie konkret. In jedem Unterrichtsfach ist also zu verdeutlichen, wie die spezifischen fachlichen Inhalte in den Medien verhandelt werden. Dies sind genuin fachdidaktische Fragen und deshalb ist es wichtig, die Fachdidaktiken in der Lehrerbildung zu stärken. 

 

Redaktion: Herr Dr. Meyer-Hamme, danke für das Gespräch.