von Ahmet Toprak

 

Respekt oder Desinteresse? Der Blick einer Schülerin oder eines Schülers auf den Boden während des Gesprächs mit einem Lehrer, einer Lehrerin spricht laut Ahmet Toprak je nach Erziehungskonzept eine andere Sprache. Toprak ist Erziehungswissenschaftler und u. a. Autor von “‘Unsere Ehre ist uns heilig’. Muslimische Familien in Deutschland”, “Integrationsunwillige Muslime? Ein Milieubericht” und “Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland. Lebenswelten, Denkmuster, Herausforderungen”. In diesem Artikel beschreibt er die Diskrepanz, die Jugendliche aus Migrantenfamilien zwischen der Mehrheitsgesellschaft und dem jeweiligen Migrantenmilieu erfahren und führt auf, welche pädagogischen Konzepte Erfolg haben, um eine multikulturelle Schülerschaft als Chance in der zeitgeschichtlichen und politischen Bildung zu nutzen.

 

Alle Kinder und Jugendlichen wachsen in den vier Lebenswelten Familie, Medienlandschaft, Peergroup und Schule auf. Diese vier Bezugspunkte stellen Jugendliche mit Migrationshintergrund in bestimmten Kontexten vor besonders widersprüchliche Erwartungen und Handlungsoptionen.

 

Das deutsche Schulsystem ist bekannterweise kaum in der Lage, soziale Unterschiede in der Schule auszugleichen. Die Nachkommen der ehemaligen Arbeitsmigranten sind dadurch nachweislich benachteiligt. Sie machen seltener als ihre Altersgenossen hochwertige Schulabschlüsse und verlassen das Schulsystem deutlich häufiger ohne Abschluss. Das liegt neben der Schulstruktur und wenig lernförderlichen Unterrichtsmethoden auch daran, dass in der Schule Werte wie Selbstständigkeit, Selbstdisziplin und Selbstreflexion (zurecht) eine besondere Rolle spielen. Denn viele türkeistämmige, arabische, albanische oder aber russischstämmige Jugendliche wachsen in autoritären Familienstrukturen auf, in denen Gehorsam oder Unterordnung den Alltag begleiten. Gehorsamkeit gegenüber den Erziehungsberechtigten impliziert, dass Kinder und Jugendliche genau das tun, was die Erziehungsberechtigten von ihnen verlangen, und zwar ohne Widerrede. Dabei wird eine Verhaltensweise gegenüber Autoritätspersonen häufig missverstanden. Einer höhergestellten Person nicht direkt in die Augen zu schauen und stattdessen den Blick auf den Boden zu richten, ist in oben genannten Herkunftsländern eine typische Verhaltensnorm. Denn ein direkter Augenkontakt bedeutet „gleiche Augenhöhe“ und wird von den Eltern als Aufsässigkeit und Provokation interpretiert. Der Blickkontakt, wie er in Deutschland über den Augenkontakt üblich ist, wird in der Familie nicht erlernt. Wenn ein Kind aus Migrantenfamilien beispielsweise während eines Gespräches mit einem deutschen Pädagogen oder einer deutschen Pädagogin die Augen nach unten richtet, ist das in der Regel keine Demonstration des Desinteresses, sondern das Zusammenprallen zweier unterschiedlicher Erziehungskonzepte: der bzw. die Jugendliche demonstriert mit auf dem Boden gerichteten Blick Respekt und erkennt damit die Autorität des Pädagogen oder der Pädagogin an. Wenn auf dieses Verhalten erwidert wird: „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“, dann führt dies u. U. zu einer zusätzlichen Irritation, die dann von dem eigentlichen Gesprächsziel „ablenkt“. Damit ist nicht gemeint, dass man den Blickkontakt nicht trotzdem fördern sollte, sondern dass man – im Gegenteil – dies nur dann fördern kann, wenn man die Hintergründe für das Verhalten kennt.

 

Diese Widersprüchlichkeiten im Verhältnis von Schule und Familie, denen sich diese Jugendlichen gegenüber sehen, werden dadurch verschärft, dass ihre Eltern sowohl Loyalität gegenüber den traditionellen Werten als auch Erfolg in der Schule (und später im Arbeitsleben) erwarten – eine typische Erwartungshaltung von Migranten und Migrantinnen der ersten Generation gegenüber ihren Kindern. Dabei können vor allem bildungsbenachteiligte Eltern ihren Kindern kaum Hilfestellungen geben, auch weil sie traditionsbedingt die Erziehungs- und Bildungsverantwortung an die Schule abgeben.

 

Für die Jugendlichen bestehen also keine „vorgeprägten Laufbahnen“, an denen sie sich in Schule, Arbeitsmarkt oder politischer Bildung orientieren können. Sie fühlen sich nicht als Deutsche und nicht als Türken, Araber, Albaner oder Russen etc. Sie distanzieren sich in gewisser Hinsicht sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von der Familie und der traditionellen Migrantenmilieus. Sie suchen nach Orientierungspunkten, die Sicherheit bieten und Identität ermöglichen. Genau dieser Effekt wird durch das Kollektiv von Peers mit ähnlicher Geschichte ermöglicht. Die Ausbildung der Hauptschule als Restschule – eine Entwicklung, die nicht zuletzt PISA unbeabsichtigt zugespitzt hat – hat dazu geführt, dass sich dort junge Männer mit Zuwanderungsgeschichte konzentrieren, die keine Vorbilder kennen, die zeigen könnten, dass man Achtung und Respekt auch ohne Gewaltanwendung erfahren kann. Vor allem das einseitige Geschichtswissen der vielen arabischen und türkeistämmigen Jugendlichen über Israel bzw. das Judentum, das von antisemitischen Stereotypen und Vorurteilen geprägt ist, stellt die Schule vor besondere Herausforderungen. Dieses Bild wird weiterhin dadurch verschärft, dass Kritik an den Herkunftsländer, sei es an Politik, Geschichte oder Religion, nicht erwünscht ist. Vor allem ist das Wissen über die Herkunftsländer genauso eingeschränkt wie das Wissen über Deutschland und deutsche Geschichte.

 

 

Fazit

 

Diese kurze und knappe Darstellung zeigt zwar die Probleme – vor allem auch in Bezug auf Schule und Elternhaus – auf, bietet aber auch einige Chancen für Politische Bildung der Jugendlichen im Kontext der Schule. Es muss allerdings betont werden, dass vor allem die bildungsbenachteiligten Jugendlichen für (differenzierte) politische und gesellschaftliche Fragestellungen wenig offen sind. Das von Stereotypen geprägte Wissen wird entweder von Eltern, älteren Geschwistern und Freunden übernommen oder aber aus einschlägigen Internetforen. Da die Erwartungen seitens der Eltern an die Schule zu hoch sind, sind den Optionen in Bezug auf die Inhalte und Methoden keine Grenzen gesetzt. Wie könnte aber – konzeptionell und organisatorisch – eine gute Bildung im Jahre 2025 aussehen? Der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund in den westlichen Großstädten beträgt fünfzig Prozent. Diese Zahl wird im Jahre 2025 weiter steigen. Die Bildungseinrichtzungen müssen sich auf diese Vielfalt einstellen und ihre gängigen pädagogischen Konzepte überdenken und modifizieren. Ein differenzierter Unterricht, der nicht nur die deutsche Zeitgeschichte kritisch durchleuchtet, sondern z. B. auch die türkische, wäre sehr gewinnbringend, wenn methodisch das Internet genutzt wird, Exkursionen angeboten werden und Lehrkräfte mit Migrationshintergrund zum Einsatz kommen. Die Lehrkräfte dürfen nicht nur als Wissensvermittler auftreten. Um einer ganzheitlichen Bildung gerecht zu werden, müssen sie darüber hinaus gute Medienexperten und -expertinnen, gute Sozialarbeiter und -arbeiterinnen sowie gute Erzieher und Erzieherunnen sein. Der Ansatz, dass alle Kinder und Jugendliche am Lernen interessiert sind, muss aufgegeben werden und Anreize geschaffen werden. Der Lernort Schule, unterstützt mit strenger Anwesenheitspflicht, wird seinen monopolen Stellenwert verlieren. Vielmehr wird das Internet, informelle Bildung in der Peergroup eine wichtige Rolle spielen und die Schule wird in erster Linie mit den Einrichtungen der Jugendhilfe (Jugendzentren, Familienzentren etc.) kooperieren, um den Unterricht und die Bildungsinhalte zu koordinieren. Deshalb werden die Lehrkräfte in erster Linie die Bildung begleiten und komprimieren und nicht bestimmen und vorgeben. 

 

 

Foto: flickr/xyzpdqfoo